Debatte AKP-Verbot: Demokratie unter Vorbehalt
Dass in der Türkei die Regierungspartei AKP verboten werden soll, ist ein schlechter Witz. Nun rächt sich, dass sich nicht Erdogan zur Verfassungs-Reform aufraffen kann.
W ieder einmal steht die Türkei vor einer entscheidenden Weichenstellung. Wieder einmal stellt sich die Frage: wird die jetzige Krise den Durchbruch zu einer echten Demokratie bringen? Oder bleibt es bei einer Demokratie unter Vorbehalt? Ist das Verbotsverfahren gegen die regierende AKP und ihre führenden Leute das Ende des demokratischen Aufbruchs? Oder haben wir es mit dem letzten Aufbäumen des bürokratisch-militärischen Apparats zu tun, bevor die Türkei endgültig in eine lichtere Zukunft durchstartet?
Jürgen Gottschlich ist Türkei-Korrespondent der taz und lebt in Istanbul.
Rein formal betrachtet, steht die Türkei immer noch unter jenem halbdemokratischen Regime, das die Militärjunta nach ihrem Putsch 1980 installiert und durch eine in ihrem Sinne neu entworfene Verfassung institutionalisiert hat. Diese Verfassung ist zwar in den letzten 28 Jahren mehrfach geändert worden. Der grundlegend autoritäre Geist, der ihr innewohnt, blieb aber unangetastet.
Der Putsch von 1980 hatte vor allem die Linke an den Hochschulen und in den Gewerkschaften zum Ziel. Bis heute hat die türkische Linke die Folgen des Putsches nicht überwunden. Ihre Protagonisten wanderten ins Gefängnis, resignierten oder gingen ins Ausland.
Mit der Verfassung, die 1982 per Volksentscheid verabschiedet wurde, legte das Militär den Rahmen einer Art gelenkten Demokratie fest, in der die Generäle selbst die Zügel in der Hand halten sollten. Erst durch den Wahlsieg der AKP 2002 wurde diese Hegemonie wirklich in Frage gestellt. Eigentlich hätte das Militär, im Sinne der Verfassung von 1980, damals schon eingreifen müssen - und wie man heute weiß, hat es unter den Generälen auch entsprechende Debatten gegeben. Dass dies dann doch nicht geschah, hatte mehrere Gründe. Denn anders als die reglementierten Parteien, hat sich die türkische Gesellschaft in den 20 Jahren, die seit dem Putsch vergangen sind, enorm modernisiert. Hinzu kommt, dass die türkische Ökonomie längst international eingebunden ist. So wären auch die wichtigsten Partner des Landes - anders als 1980, wo der Kalte Krieg noch die globale Ordnung diktierte - 2002 von der Aussicht auf eine Militärdiktatur in der Türkei alles andere als begeistert gewesen.
An dieser Situation hat sich bis heute nichts geändert, im Gegenteil: für die türkische Ökonomie und die Partner des Landes stellt schon jeder Versuch, die demokratische Entwicklung wieder zurückzudrehen, eine Katastrophe dar. Die EU hat klargemacht, dass mit einem AKP-Verbot der Beitrittsprozess des Landes zu Ende wäre. Die Rating-Agenturen haben die Türkei bereits auf "negativ" heruntergestuft, die Ökonomie stürzt ab.
Warum also jetzt der Versuch, die AKP auszuschalten? Der Vorwurf des Generalstaatsanwaltes, die AKP hätte sich zum Zentrum der antilaizistischen Aktivitäten im Lande entwickelt, ist zwar als Grundlage für ein Verbotsverfahren ein schlechter Witz - als politischer Vorwurf aber nicht ganz von der Hand zu weisen. Seit ihrem überwältigenden Wahlsieg im letzten Juli und der anschließenden Inthronisierung Abdullah Güls zum neuen Staatspräsidenten hat die AKP ihren Kurs drastisch geändert. Hatte sie sich in den ersten fünf Regierungsjahren noch darauf konzentriert, durch innere Reformen das Land an die EU heranzuführen und die Wirtschaft in Schwung zu bringen, war davon plötzlich nichts mehr zu spüren.
Seit eineinhalb Jahren spielt die EU in der türkischen Politik praktisch keine Rolle mehr. Die versprochenen Reformen - insbesondere die Abschaffung des berüchtigten Strafrechtsparagrafen 301, der die "Beleidigung des Türkentums" unter Strafe stellt - wurde immer wieder verschoben. Auch jetzt, wo EU-Kommissionspräsident José Manuel Baroso und Erweiterungskommissar Olli Rehn die Türkei besuchen, ist man zu mehr als kosmetischen Korrekturen nicht bereit.
Noch im Wahlkampf hatte die AKP sich die Unterstützung der liberalen Kreise des Landes mit dem Versprechen gesichert, man werde als wichtigstes Projekt eine neue Verfassung vorlegen, die endlich das alte autoritäre Grundgesetz des Militärs ablösen soll. Stattdessen ging es zuletzt jedoch nur noch um das Kopftuch. In einer unheiligen Allianz mit der ultranationalistischen MHP wurde die Verfassung nur geändert, um den Weg für eine Aufhebung des Kopftuchverbots an den Universitäten freizumachen. Von einer ganz neuen, freiheitlichen Verfassung ist nicht mehr die Rede.
Seit diesem Schwenk hat die AKP die Unterstützung des liberalen Lagers, zu denen die wichtigsten Meinungsmacher und Unternehmer des Landes gehören, weitgehend verloren. Alle Vorschläge seiner liberalen Unterstützer, die Freiheit für das Kopftuch in einen größeren Freiheitskanon einzubetten, hat Ministerpräsident Tayyip Erdogan verworfen. Dadurch scheint klar, dass es der AKP nun, da sie an allen entscheidenden Machthebeln sitzt, nur noch darum geht, ihr Programm, auf dessen Umsetzung sie fünf Jahre gewartet hatte, durchzuziehen.
Es war ein Paradigmenwechsel, auf den die Falken im Apparat nur gewartet hatten. Für sie, denen ein EU-Beitritt sowieso ein Graus wäre, ist deshalb nun die Stunde der Abrechnung mit der AKP gekommen. Ein Teil der Partei plädiert nun dafür, wieder in die demokratische Offensive zu gehen und den bislang zurückgehaltenen Entwurf für eine neue Verfassung vorzulegen. Die Mehrheit der Partei, einschließlich Erdogan, scheint aber eher dahin zu tendieren, den harten Kern ihrer religiösen Unterstützer zu mobilisieren. Zwar will man nun mit der Opposition erneut über eine Verfassungsreform reden. Tatsächlich aber strebt Erdogan Neuwahlen im kommenden Frühjahr an - quasi als Volksentscheid gegen das Verbotsverfahren.
Bisher sind die Aufrufe diverser Organisationen, Wirtschaftsverbände und Gewerkschaften an die Kontrahenten, innezuhalten und nach einem Kompromiss zu suchen, ergebnislos verhallt. Vielleicht wird der Besuch von Barroso und Rehn dazu führen, dass die AKP-Führung sich wieder mehr auf ihre ursprüngliche Reformagenda zurückbesinnt. Nur so kann sie jedenfalls eine breitere gesellschaftliche Unterstützung zurückgewinnen und gegen die Betonkemalisten erneut in die Offensive kommen.
Selbst wenn die AKP verboten werden sollte, wäre das aber noch nicht das Ende ihres Weges. Ein Putsch wie im Jahre 1980 ist heute nicht mehr wiederholbar. Millionen von AKP-Anhängern kann man nicht einfach in den Knast stecken, die Partei würde sich einfach unter neuem Namen neu gründen.
Eine Erkenntnis aber bliebe: Die AKP - oder wie immer sie demnächst heißen könnte - wird nicht in die Rolle einer demokratischen Linken schlüpfen, um die Gesellschaft zu liberalisieren - auch nicht unter dem Druck der EU. Für eine echte Demokratisierung bräuchte es in der Türkei eine Partei, die aus Überzeugung und nicht nur aus taktischen Gründen für mehr Liberalität eintritt. Bis es so weit ist, muss die Demokratie in der Türkei Stückwerk bleiben.
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