Debatte 60. Jahrestag Verfassung: Wo ist das Volk?

Wenn die Verfassung ihren 60. Jahrestag feiert, bleibt die Zivilgesellschaft vor der Tür

Vor drei Wochen verkündete der Regierungssprecher das Drehbuch für die Feierlichkeiten zum 60. Jahrestag des Grundgesetzes am 23. Mai. Vorgesehen sind ein Staatsakt im Konzerthaus am Gendarmenmarkt und ein "Bürgerfest", für das eine Media-Agentur (deren Chef vor zehn Jahren Berlin mit Plastikbären vollgestellt hat) eine "qualitativ hochwertige Kombination von Information, Unterhaltung, Kulinarik und wirtschaftlicher Präsentation" erarbeitet hat. Kern-Event solle ein Autokorso, pardon "Car Walk" der schönsten Modelle aus sechzig Jahren sein, über die "Linden", die für drei Tage zu einem "Boulevard der Marken" umgeschmückt werden: mit hundertfünfzig drei Meter hohen "Stelen" der bekanntesten deutschen Produkte. "Die Wirtschaft", sagte der Regierungssprecher, habe schließlich "einen erheblichen Anteil an den Aufbauleistungen der vergangenen sechzig beziehungsweise zwanzig Jahre" gehabt; es sei angemessen, ihr zum Verfassungstag "Gelegenheit zur Selbstdarstellung" zu geben. An eine offizielle Beteiligung der Gewerkschaften hingegen sei nicht gedacht. Aber die könnten, so erklärte der Regierungssprecher, sich doch in die zahlreichen Veranstaltungen der "Zivilgesellschaft" auf der Fanmeile zwischen Parlament und Siegessäule einreihen.

Deutschland feiert seine Demokratie: Zehntausende flanieren mit Bier aus Plastikbechern durchs Brandenburger Tor, vorbei an überlebensgroßen Modellen von Niveadosen, Kaffeefiltern, Erdalfröschen, Stofftieren, Kettensägen, Aspirintabletten und Werkzeugmaschinen, nicht zu vergessen: Rotkäppchensekt (der Osten!). Für die Kleinen spielen die Augsburger Puppenkiste und das Sandmännchen (die deutsche Einheit!), James Last wird für gute Laune sorgen und "Deutschlands Bäcker guten Morgen wünschen"(mit Teiglingen aus Tschechien?). Der Staatsakt mit Beethoven und die Party der "Zivilgesellschaft" sollten, so der Sprecher, "auseinandergehalten" werden. Die Wendung spiegelt exakt unsere "Verfassung": im Saal die Selbstfeier der politischen Klasse, draußen ein preiswertes, weil industriegesponsertes Fest für die Bürger, die den Demoskopen seit Jahren eine Zweidrittelmehrheit gegen Privatisierung des Volkseigentums, Verarmung der Bildungsinstitutionen und Sozialabbau in die Fragebögen diktieren.

Und jetzt wird "nachgebessert". Eine verfassungspatriotische Glosse in der FAZ hat wohl zumindest den Autokorso verhindert . Die Karlsruher Richter sind "irritiert", weil kein Hüter der Verfassung um eine Rede zu deren Geburtstag gebeten wurde. Die SPD murrt, weil nur drei CDU-Politiker (der Präsident, der Parlamentspräsident, die Kanzlerin) sprechen sollen, und fordert eine Debatte des Bundestages. Das ist nicht unriskant: Einlassungen von Renate Künast zur ökologischen Zukunftsfähigkeit (Art. 20 a GG), eine Rede von Oskar Lafontaine über Eigentum, Erbrecht und Sozialisierung (Art 14 und 15 GG) und vielleicht sogar der Beitrag eines Restliberalen zur Unverletzlichkeit der Privatsphäre (Art. 13) könnten den Feierfrieden trüben.

Vor zwei Jahre drang der Klimaschock bis in die Provinzpresse und die Familien, vor vier Monaten sprach der Finanzminister, nach dieser Krise werde "nichts mehr so sein wie früher", der Ruf nach einer "Renaissance der Politik" hallt durchs Land - na ja, durchs Feuilleton. Mit naturwüchsiger Gewalt schafft der Weltmarkt einen Ausgleich zwischen reichen Nationen und Schwellenländern, der Glaube an ewiges Wachstum wankt, Ministerialbeamte fragen sich, ob die Konstruktion "konsumistische Massendemokratie mit mediengestütztem Parlamentarismus der Mitte" noch zukunftsfähig sei. Solange der "Wohlstand" regelmäßig, wenn auch ungleich wuchs, kamen wir ganz gut - um es in den Worten eines der Gründungsdokumente der demokratischen Moderne zu sagen - mit der volonté de tous, dem korporatistisch aggregierten Willen aller Bürger, aus. Die Zukunftsfrage lautet, wie wir es angesichts der Energie-, der Klima-, der Wachstums- und der Finanzkrise zur volonté generale bringen - der Fähigkeit eines politischen Gemeinwesens, das Notwendige zu tun, auch gegen die Interessen mächtiger Einzelner oder der hedonistischen Vielen. Und wie wir in Zeiten schrumpfenden Wachstums die Grundbedürfnisse finanzieren, ohne Gewalt den Reichtumsausgleich zwischen Nord und Süd organisieren und unsere Bedürfnisse so revolutionieren, dass wir das Leben der zukünftigen Generationen sichern.

Es sind Fragen, die in der "Zivilgesellschaft", die nach dem Willen der Jubiläumsplaner mit ihren "Info-Ständen" vor dem Tor die schöne Vielfalt der Republik leuchten lassen soll, schon lange gestellt werden. Für jede kräftige Veränderungsidee gibt es irgendwo in diesem Land Gruppen, die sie vorgedacht haben und für ihre Realisierung arbeiten. Die Aktion Mensch, die Stromrebellen, die Migrantenvertreter; die Schulinitiativen und die Familienanwälte; Stadtteilgruppen und Solarbastler; Aktivisten gegen die Privatisierung der Infrastrukturen und für Creative Commons im Internet; einfallsreiche Fraunhofer-Ingenieure, aufgeklärte Verbandsfunktionäre und Stadträte, sozial engagierte Unternehmenserben - die politische Energie und die soziale Fantasie all dieser Modernisierer und Lückenbüßer ist verstreut. Sie bündelt sich nicht zu einer Revitalisierung der Parlamente. Die Größe der anstehenden Lernprozesse und Veränderungen aber erfordert neue gesamtgesellschaftliche Regelungen - und das heißt: Gesetze. Den Klimawandel, die Zügelung der Kapitale und die "Wende zum Weniger" - oder sagen wir zutreffender: zum "Anders leben" - werden nur Gesellschaften demokratisch bestehen, die ihre Identität über ein großes Zukunftsprojekt neu definieren und erarbeiten.

Darüber wäre Ratschlag zu halten gewesen auf der Verfassungsfeier. So wie die Dinge liegen, wird es noch eine Weile beim Nebeneinander von sklerotischem Parlamentarismus und Erneuerungsgesellschaft bleiben. Eine Woche vor dem Marktfest wollen die Gewerkschaften über die Fanmeile ziehen. Deren Spitzen sorgen sich, wie sie genug Menschen auf die Beine bringen: Einige wollen die SPD nicht endgültig blamieren, die "Basis" ist wütend, aber die Schmerzgrenze ist sehr elastisch geworden; die Semantiker halten Parolen wie Reichen-, Erbschafts-und Vermögenssteuer für "medial verbrannt", ein Zusammengehen des bunten Haufens der Kapitalismuskritiker von Attac und anderen mit den Gewerkschaften ist unwahrscheinlich.

Es gibt keinen Kristallisationskern für eine kraftvolle außerparlamentarische Opposition. Aber selbst wenn er unter dem Druck der Krise entstünde: Das wäre erst der Anfang. Denn die mentale Erschütterung durch die alte APO wirkte erst über die Hunderttausenden, die damals in die Parteien eintraten - weil sie an die Reformfähigkeit der Demokratie glaubten - und das Land, wenn auch nicht ohne Knirschen, ein wenig modernisierten. So wie es aussieht, brauchen wir für eine solche Erneuerung zunächst eine Schwarzgelbe Regierung. Das ist bitter. Wir sind das Volk. But no, we cant.

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