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Das wahre Leben ist doch im Internet

Von der Bundeswehr, herausgerissenen Haaren, kostenlosen Telefonaten und anzüglichen Wettfahrten mit Schumi: Die 41. Internationale Funkausstellung ist ein virtuelles Abbild der Realität  ■ Von Barbara Bollwahn

Siegfried Holst hört das Gras wachsen. Er ist Horchfunker und auf der Internationalen Funkausstellung auf der Suche nach Nachwuchs. Im Internationalen Congress Center versucht die Bundeswehr mit einem Informationsstand, die vielen jungen Männer, die sich eher für Scall-Pagers und das Internet interessieren, für den Dienst an der Waffe zu begeistern. Locken Hi-Fi-Produzenten und Fernsehsender mit Werbegeschenken und Bühnenshows, zieht die Bundeswehr mit einem digitalen Funkarbeitsplatz und einem Flugsimulator ins High-Tech-Feld. Denn Horchfunker Holst weiß: „Mit dem Morsealphabet kann man keinen hinter dem Ofen hervorlocken.“ Was ein Flugsimulator mit der Funkausstellung gemein hat? „Das ist eher ein Zusammenhang zwischen dem Arbeitsplatz im Horch- und Sprechfunk und der Funkausstellung“, bemüht ein Wehrdienstberatungsoffizier die Sprache als Waffe.

Die Horchfunker haben es nicht leicht. Nicht nur, daß ihr Stand weit ab vom Schuß der wahren virtuellen Welt liegt. Auch die feindliche Übermacht ist so groß wie noch nie zuvor: Über 800 Aussteller aus 33 Ländern umwerben seit Samstag die Konsumenten auf einer Bruttoausstellungsfläche von 130.000 Quadratmetern. 41 Fernseh- und 25 Hörfunksender und namhafte Hersteller und Anbieter von Online-Diensten haben neun Tage lang Zeit, die erwarteten 450.000 Besucher hightechmäßig auf den neuesten Stand zu bringen.

Dabei hat die besten Karten bekanntlich der, der etwas verschenkt oder große Rauchschwaden in heiße, überfüllte Hallen bläst. Bei einem Online-Anbieter gibt es beides. Entsprechend groß ist der Andrang, als CDs mit kostenlosen Surfstunden im Internet verteilt werden. Ein Mittfünfziger- Ehepaar nimmt gleich zwei. „Für die Kinder, das ist alles für die Kinder“, sagt der Familienvater, der eigentlich nicht so richtig weiß, was er da gerade in seine Tüte stopft. Der Moderator auf der Bühne, der in Lebensgröße durchs Internet stapft, hat jedenfalls von einem „virtuellen Abenteuer“ und einer „magischen Reise“ gesprochen.

Bei Sony geht es gleich um eine „Weltneuheit“. Coole Typen mit schwarzen Anzügen und dunklen Sonnenbrillen fotografieren die Besucher – umsonst. Doch um sich das IFA-Erinnerungsfoto anschauen zu können, muß der Porträtierte tief in die Tasche greifen. Denn das „Fotoalbum“ für die digitale Fotokamera, die auf Floppy speichert („Auf die Floppy, fertig, los“, heißt es), ist ein PC. Da muß das Bild draufgeladen werden. „Es ist noch nicht so bei den Endverbrauchern angekommen“, beruhigt eine Messehostesse, „daß sie ihre Fotos am PC statt auf dem Sofa angucken.“ Außerdem seien konventionelle Kameras noch immer billiger. Und wahrhaftiger. Denn die digitalen Fotos können am PC beliebig bearbeitet werden. Da verschwinden Speckpolster und der Exfreund genauso aus dem Foto wie der wolkenverhangene Himmel auf Mallorca.

Gedränge auch da, wo die Besucher in einem knallroten Rennwagen durch virtuelle Häuserschluchten hindurch gegen die Bestzeit von Schumi anfahren können. Der Moderator begrüßt Stefanie auf der Bühne. Die blonde junge Frau hat Probleme, sich in das Gefährt zu zwängen, und zieht deshalb die hochhackigen Schuhe aus. „Du kannst auch noch mehr ausziehen“, ermutigt sie der Moderator, „dann haben wir gleich einen ganz großen Auflauf.“

Solch peinliche Auftritte hat ein privater Telefonanbieter nicht nötig. Dort reicht allein das Aufstellen von Telefonkabinen, in denen man kostenlos in Deutschland telefonieren kann, um Hunderte von Besuchern daran zu erinnern, daß sie ganz plötzlich ganz wichtige Telefonate führen müssen. Wie zum Beispiel der 37jährige Lokführer aus Bayern, der gerade mit seiner Mutter in einer Kleinstadt bei Nürnberg telefoniert hat. „Das muß man doch ausnutzen“, sagt er. Worüber sie gesprochen haben? „Meine Mutter wollte wissen, wie hier das Wetter ist.“

Nicht weniger lebensnah geht es am Stand des Radiosenders Kiss FM zu, wo live zu sehen ist, wie hart umkämpft der Medienmarkt ist. Als sich mehrere Moderatorenpärchen in einem Wettbewerb dem Publikum als Jury stellen, kommt ein Pärchen, das anscheinend vergessen hat, daß es doch irgendwie in einer wahren Welt lebt, mit so viel realer Power auf die Bühne gesprungen, daß die beiden volles Rohr mit den Köpfen aneinanderknallen – und wirkliches Blut fließt. Während das Mädchen ausscheidet, macht der junge Mann, ganz Profi, unbeirrt weiter. Wer zuerst jemandem drei Haare ausreißt und ihm auf die Bühne bringt, gewinnt ein Radio.

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