Das von den Nazis verhinderte Konzert: Eine Allegorie des Verstummens

Florian Heinisch spielt zur Erinnerung an den Wunderpianisten Karlrobert Kreiten das Programm, das der aufführen wollte – an dem Tag, als die Gestapo kam.

Florian Heinisch und sein Flügel: Er gibt „Das ungespielte Konzert“ von Karlrobert Kreiten. Foto: Jörg Singer/dpa

BREMEN taz | Streng genommen ist es unmöglich: Kein Konzert ist ja wie das andere. Jeder Musiker spielt die Kompositionen als er selbst, auf seine eigene Weise, „das ist eine persönliche Sache“, sagt der Pianist Florian Heinisch. Und doch tritt der 25-Jährige am heutigen Freitag im Bremer Sendesaal und am Montag in der Hamburger Laeiszhalle mit demselben Programm auf, das noch dazu überhaupt nicht seines ist. Heinisch gibt „das ungespielte Konzert“, nämlich exakt jene Werke, die der am 26. Juni 1916 in Bad Godesberg bei Bonn geborene Klaviervirtuose Karlrobert Kreiten am 3. Mai 1943 hatte in Heidelberg aufführen wollen, in der Aula der Universität.

Das Konzert fand damals nicht statt. Jemand hatte Kreiten verraten. Im Heidelberger Hotel, das der arglose Vater einem nur vermeintlich freundschaftlich gesinnten Anrufer auf drängendes Fragen angegeben hatte, wurde Kreiten von der Gestapo verhaftet. Roland Freisler verurteilt den jungen Mann, wie sein Vater Niederländer, wegen „Wehrkraftzersetzung und Feindbegünstigung“ zum Tode. Am 7. September 1943 richteten ihn die Nazis in Plötzensee hin, per Fallbeil, zusammen mit 185 Mitgefangenen.

„Kreiten war wahrscheinlich das größte Talent, vielleicht dieses Jahrhunderts“, das hat der 1991 verstorbene chilenische Meisterpianist Claudio Arrau dem Bremer Musikwissenschaftler Hartmut Lück einst über seinen Schüler berichtet. Lück war damals als Mitarbeiter an Fred K. Priebergs Standardwerk über Musik im NS-Staat auf den fast völlig vergessenen Pianisten gestoßen. „Was er machte, hatte immer einen musikalischen Sinn.“

Eine Ahnung davon bekommt, wer sich die einzige Schallplatte mit vier 1934 entstandenen Aufnahmen Kreitens anhört, die 50 Jahre später beim Hamburger Label Thorofon erschienen ist: Wunderschön leicht, eher sachlich-schnoddrig als pathetisch, spielt da das gerade mal 18-jährige Wunderkind Chopins b-Moll Prélude und das Nocturne in cis, und auch Brahms ex­trem schwierige Paganini-Variationen. „Es klingt sehr selbstbewusst, sehr überzeugt“, sagt Heinisch. „Wenn er noch leben würde und ein Konzert geben, dann würde ich wahrscheinlich sofort hingehen.“

Gekannt hatte Heinisch den Namen Kreiten nicht. „Ich habe den erstmals gehört, als Moritz von Bredow mich gefragt hat, ob mich ein solches Projekt interessieren würde.“ Spontan habe er Ja gesagt, „ich war sofort begeistert“. Die historische und politische Dimension „das ist mir wichtig“, sagt er. Ein Unterschied zu Kreiten: Der war, nach allem was über ihn bekannt ist, ein unpolitischer Künstler. Als Wehrkraftzersetzung ausgelegt worden waren ihm saloppe Sprüche darüber, dass Hitler krank und der Krieg nach Stalingrad für die Deutschen ja wohl nicht mehr zu gewinnen sei. Im vertrauten Zirkel hat er das gesagt. Eine Freundin seiner Mutter, die ihn seit der Kindheit kannte, hat Kreiten angeschwärzt.

Heinisch hat sich die Aufnahmen mit Kreiten natürlich mittlerweile besorgt. Aber erst nachdem er seinen eigenen Zugang zu den Kompositionen gefunden hat, die Kreiten im Frühjahr 1943 hätte spielen wollen. Er hat auch eine eigene Dramaturgie in Absprache mit Moritz von Bredow, dem Organisator der Konzerttournee, entwickelt, die von Kreitens Geburtsort Bonn ausgeht, in Düsseldorf und Heidelberg Station macht, und in Berlin, dem Ort der Haft und der Ermordung, endet.

Seinerzeit nämlich war es üblich, die Werke in strikt chronologischer Abfolge zu präsentieren. Kreiten hätte sich also von Bachs Präludium und Fuge in D-Dur über Mozart, Beethoven und Chopin bis zu Franz Liszts Rhapsodie espagnole vorgearbeitet. Das würde man heute eher als Zumutung empfinden: Rekonstruktion – ja, aber eben nicht vollkommen. Sonst dürfte man ja auch nicht in Bremen Station machen, und schon mal erst recht nicht im Sendesaal: Das Akustikwunder in der Vahr ist erst 1952 gebaut worden, neun Jahre nach Kreitens Tod.

In Hamburg hatte es ein Gastspiel gegeben. Aber in Bremen, „da ist er nie aufgetreten“, so von Bredow. Es sei eher eine Reverenz an Hartmut Lück, der eine Einführung halten wird. Dessen Forschungen waren mitverantwortlich dafür, dass wenigstens Kreiten dem Vergessen entrissen wurde, als einer von sehr vielen: Mehr als 5.000 Hauptnamen führt das von der Uni Hamburg konzipierte Online-Lexikon verfolgter Musiker und Musikerinnen der NS-Zeit auf. Die meisten davon sind allenfalls ExpertInnen geläufig. Und zugleich hat es große Lücken, gerade auch beispielsweise bei Roma-MusikerInnen.

Das Erinnern ist ihm „ein politisches Anliegen“, sagt von Bredow: Der Hamburger Kinderarzt hat 2012 eine Biografie der „rebellischen Pianistin“ Grete Sultan, eine der wichtigsten Interpretinnen Neuer Musik von Arnold Schönberg bis John Cage, verfasst. Und das Erinnern gelingt dem Konzert konzeptionell, gerade indem es sich nicht als Reenactment einer geplanten, aber nie realisierten Performance von 1943 geriert, sondern weil das ungespielte Konzert ungespielt bleibt, immer bleiben wird: Das Konzert, das Heinisch spielt, ist eine Allegorie des Verstummens der vielen.

Das zu thematisieren ist möglich dank der relativen Bekanntheit Kreitens: Denn es war ein Skandal, als man Ende der 1980er mit dem wachsenden Interesse an dem ermordeten Musiker die veröffentlichten Reaktionen ernsthaft zu befragen begann: Ins Auge stach ein im Berliner Das 12 Uhr Blatt, einer NS-Propagandazeitung, veröffentlichter Nach-Rufmord: Als „ehrvergessen“ schmähte er den zuvor im Reich gefeierten Künstler. Das Volk fordere „daß gerade der Künstler mit seiner verfeinerten Sensibilität und seiner weithin wirkenden Autorität so ehrlich und tapfer seine Pflicht tut, wie jeder seiner unbekannten Kameraden aus anderen Gebieten der Arbeit“, entwickelte der Schreiber einen tief in der Nazi-Ideologie verankerten Sonderrechtsbegriff. „Denn gerade Prominenz verpflichtet.“

Der Verfasser, der so „seine intellektuelle Jauche auf das Grab des Ermordeten“ gekippt hatte, wie Götz Aly 1987 schrieb, war schnell zu einer Radio-, später zur TV-Größe aufgestiegen, erst beim Nordwestdeutschen Rundfunk, dann beim WDR, als dessen Intendant er Mitte der 1970er fungierte. Werner Höfer hieß er. Die aus der DDR 1962 lancierten Hinweise auf dessen Urheberschaft hatte man im Westen ignoriert. Erst als 1987 Der Spiegel sie nachgewiesen hatte, brach das Vergessen zusammen.

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