Das neue Album von Neneh Cherry: Emotionen erraten
Breakbeats, Rapsalven und Jazz. Dazu eine Stimme, die affektive Uneindeutigkeit herstellt. Neneh Cherry ist zurück mit dem Album „Blank Project“.
Es gibt einen Mythos in der Popmusik, und er folgt einem einfachen Muster. Auf das tolle Debütalbum folgt das vielversprechende zweite. Beim dritten Werk entscheidet sich dann bereits der Weg zwischen One-Hit-Wonder und „Gekommen, um zu bleiben“. Bei Neneh Cherry folgten auf das dritte Album 16 Jahre Stille.
„Blank Project“ heißt ihr fabelhaftes neues Album, das heute erscheint. Tabula rasa also, ein Start am Nullpunkt. „Does my ass look big in these new trousers?“, singt sie im Titelstück, während im Hintergrund vor sich hinwütende Breakbeats immer wieder mit einem Verstärker kollidieren. Als ob sie sich um so was kümmern würde.
Rewind: 1988 trat Neneh Cherry mit ihrem HipHop-Hit „Buffalo Stance“ im britischen Fernsehen auf. Unter der Goldjacke trug sie einen schwarzen Spandex-Rock. Und darunter ein Kind – Cherry war im achten Monat schwanger. Heute singt sie „My Fear is for my Daughters“, nach langer Pause vom großen Popgeschäft, in der sie sich hauptsächlich dem Großprojekt „Familie“ gewidmet hat. Warum auch nicht? Von den Einnahmen, die ihr die Radio- und Best-of-Rotation von „Buffalo Stance“ und ihren anderen Hits bescheren, lässt sich prima leben.
Aber Neneh Cherry hatte neben einem Händchen für Hits immer auch eine Leidenschaft für Abseitiges. Bevor sie Songs wie „Manchild“ und „7 Seconds“, den Balladenschmachtfetzen, eingesungen zusammen mit dem senegalesischen Sänger Youssou N’Dour berühmt machte, spielte sie auch mit der Postpunkband Rip, Rig & Panic. Später legte sie regelmäßig bei einem Londoner Piratenradiosender Platten auf, komponierte gleichzeitig die Arrangements für das Debütalbum von Massive Attack mit.
Grime-Queens und Bashment-Ladys können sich bei Cherry bedanken
Sie war immer stilbildend: Bereits Neneh Cherrys Soloalbumdebüt „Raw like Sushi“ von 1989 stellt eines der ersten Alben einer britischen HipHop-MC dar, für das sich die Grime-Queens und Bashment-Ladys der Londoner Bassmusikszene von heute gehörig bedanken können. Zwei Soloalben veröffentlichte Cherry danach noch. Das eine („Homebrew“) war ein minimalistisch gehaltenes Old-School-HipHop-Album mit präzise gesetzten Beats und Reimen.
Das andere („Man“) ein überproduziertes Downbeat-Album, in dem Cherry HipHop-Skills unter einer Schicht überbordender Piano- und Streichersounds verschwanden. Kein Wunder, dass ausgerechnet „Man“ Neneh Cherry größten Erfolg bescherte: „7 Seconds“ schaffte es in vier Ländern an die Spitze der Charts.
Und nun? Ein echtes Comeback ist „Blank Project“ nicht. Bereits Sommer 2012 veröffentlichte Neneh Cherry das Album „The Cherry Thing“, eine Kollaboration mit dem schwedischen Freejazz-Saxofonisten Mats Gustaffsson und seiner Noisecore-Band The Thing. Über sägenden Saxofonläufen und markerschütternden Bassfiguren coverte Cherry Postpunk- und HipHop-Klassiker, dazu kam ein Stück von Ornette Coleman und ihrem Adoptivvater, dem Jazztrompeter Don Cherry. Schon im Kindesalter nahm dieser Neneh Cherry und ihren Bruder Eagle-Eye mit auf Tour.
Auch „Blank Project“ ist ein Jazzalbum geworden, selbst wenn weit und breit kein Saxofon zu hören ist. Aber der Kern von Jazz ist ohnehin etwas anderes: die Improvisation, das Musizieren im Kollektiv, in dem sich Stimmen und Instrumente in den Dialog begeben. Damit passt Neneh Cherry gut in das Raster von Smalltown Supersound, dem tollen norwegischen Label, das seit über einem Jahrzehnt Jazz mit Electronica und experimenteller Musik versöhnt und dabei nie ins Esoterisch-Muckerhafte abdriftet, sondern immer um Oberflächenreize bemüht bleibt.
Auf „Blank Project“ werden diese Reize von RocketNumberNine geliefert, einem Duo mit einem rohen, aufs Notwendigste reduzierten Zusammenspiel von Schlagwerk und Synthesizern. Aufgenommen haben sie das Album in einer Woche, alle gemeinsam in einer Kirche in Woodstock, US-Bundesstaat New York. „Ich arbeite am besten im Kollektiv“, erzählte Neneh Cherry einmal in einem Interview.
Samplefragmente wie eine holistische Komposition
Zur Besetzung auf „Blank Project“ gehört auch ihr Produzent Kieran Hebden. Unter seinem Pseudonym Four Tet ist er der Virtuose unter den zeitgenössischen Dancefloor-Produzenten. Hebden spielt den Laptop wie andere ein Jazzensemble anführen würden: Er lässt Tonspuren in- und wieder auseinanderfliegen. Dabei bearbeitet er die Sollbruchstellen mal so sorgfältig, dass die Samplefragmente wie eine holistische Komposition wirken, dann wieder brechen die Loops aus dem Sequenzerraster, und Hebden verliert sich in der freien Improvisation mit und gegen den Takt der Maschine.
Auf „Blank Project“ arrangiert er Cherrys Stimme so, dass sie immer wieder im Call-and-Response-Modus auf den spröden Unterbau trifft und sich in diesem Treffen eine Art affektiver Uneindeutigkeit herstellt. Man fühlt etwas – nur was dieses Etwas ist, das wird niemals klar. Denn Neneh Cherrys Stimme jagt eben nicht im Castingshowmodus durch die Oktaven, greift niemals nach dem Sternenhimmel einer Diva, die sie aufgrund ihres Stimmumfangs eh niemals geben könnte. Stattdessen flüstert Neneh Cherry. Oder sie tut, als ob sie flüstern würde, selbst wenn sie dabei schreit. Oder noch präziser: Sie spricht. Mal schneller, mal langsamer, mal spricht sie Melodien, mal einen Monolog.
Aber es fühlt sich an, als wäre jede Atempause der letzte Atemzug vor dem Freakout, in dem sich ein unglaublicher Stimmenorkan entfalten könnte, was dann aber doch nicht eintritt. So viel Punk muss sein. Denn Cherry ist natürlich schlau genug, der Idee von Stimme als Ausdruck ’echter‘ Emotionen zu misstrauen. Stattdessen reißt sie ihre Hörer immer wieder dadurch mit, dass das Erraten der Emotionen ihm überlassen wird. Ist es Wut oder Trauer, wenn sie von ihrer verstorbenen Mutter singt? Und hasst sie den Typen im Titelstück „Blank Project“ jetzt für seine Rücksichtslosigkeit oder sich selbst dafür, dass sie noch immer mit ihm zusammen ist?
Glasklare Stimme
Als Gegenpart für ihre raue Emotionalität hat sich Cherry die glasklare Stimme der schwedischen Synthie-Pop-Sängerin Robyn gesucht. Diese hatte im Video zu ihrem Song „U should know better“ ein Poster von Neneh Cherry im Jugendzimmer ihres Teenage-Alter-Egos platziert.
Jetzt singen die beiden also zusammen. Anders als man es vielleicht erwartet, ist ihr Duett keine Empowerment-Hymne für den feministischen Third-Wave-Dancefloor geworden. Sondern die Parodie eines HipHop-Battletracks, in dem die beiden Sängerinnen ihre eigene Ecke erst ein wenig ausschmücken, um sich beim Refrain in der Mitte des Rings zu treffen. Im Hintergrund halten Drums und Synthesizer stoisch den Takt, während sich die beiden Sängerin gesanglich zuprosten.
Das Highlight hebt sich Cherrys Album aber für das Finale auf. Auf „Everything“ sampelt Kieran Hebden den Gesang von Neneh Cherry zu einem Loop, der mit zunehmender Dauer immer maschinenhafter wird, während Cherry ihre Stimme völlig frei darüber improvisieren lässt. „Good things comes to those who wait“ ist der letzte verständliche Satz, bevor Cherry ihre Melodien in Yeah-Fragmente, Gutturalsounds, Rapsalven und Gelächter enden lässt. Recht hat sie.
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