: „Das ist moralisch fragwürdige Politik“
Berlin beraubt sich durch die Ver- und Zurückmietungen seiner Entscheidungsfreiheit, sagt Birger Scholz. Der Attac-Experte glaubt: Rechtsstreite können einer Stadt in 10 Jahren das Rückgrat brechen – letztlich müsste der Bürger zahlen
taz: Heute schon mit der U-Bahn gefahren, Herr Scholz?
Birger Scholz: Nein, heute nicht. Aber sonst regelmäßig, so kommt man ja am schnellsten durch Berlin.
Rund ein Drittel der U-Bahn-Wagen hat die BVG an eine US-Firma ver- und wieder zurückgemietet.
Das haben wir auch vor kurzem erst gehört. Es ist bezeichnend für solche Geschäfte, dass sie in der Regel völlig intransparent an der Öffentlichkeit vorbei abgeschlossen werden: Man erfährt so gut wie nichts über Vertragspartner, Vertragsvolumen und die Verpflichtungen.
Was hat Attac dagegen, wenn Berlin durch Cross-Border-Leasing mehr Einnahmen macht?
Wir halten das grundsätzlich für eine moralisch fragwürdige Politik. Die USA ermöglichen diese Geschäfte, um durch Subventionen den eigenen Standort zu stärken. Die internationalen Finanzkonzerne gewinnen, die meisten Menschen verlieren.
Verlieren? Ohne diese Einnahmen müssten in Berlin weitere Kindergärten, Jugendclubs und Sportvereine geschlossen werden.
Würde das Großkapital angemessen besteuert, wären die Kommunen nicht pleite. Diese Geschäfte sind voller unkalkulierbarer Risiken. Wer eine Rendite erzielen will, muss ein Risiko eingehen, das ist das eherne Gesetz von Finanzinvestitionen.
Übertreibt Attac die Risiken nicht? Häufig heißt es, die Stadt müsste Schadensersatz zahlen, wenn die USA ihre Steuergesetze ändern. Dabei liegt dieses Risiko bei dem Geschäft mit den Berliner Messehallen allein bei der US-Firma.
Ja, aber das ändert sich, wenn die USA eine Quellensteuer einführen und wenn das Doppelbesteuerungsabkommen geändert wird. Außerdem wird jedes Geschäft einzeln neu ausgehandelt. Jedes Risiko muss für die Stadt in den Verträgen explizit ausgeschlossen werden. Dabei muss sich die Stadt auf interessensgeleitete Arrangeure wie die Deutsche Bank verlassen. Und die Verträge können nicht überprüft werden, weil sie der Öffentlichkeit vorenthalten werden.
Eine klare Vertragsverletzung ist es bei diesen Geschäften immer, wenn die Mietobjekte nicht erhalten bleiben.
Genau, und wer kann heute schon sagen, was in 30 Jahren ist? Zumal die Bevölkerungszahl weiter abnimmt. Wer weiß, ob die Messe Berlin dann noch boomt? Die Bürger zahlen dann für Objekte, die nicht mehr gebraucht werden. Berlin beraubt sich seiner Entscheidungsfreiheit, das ist antidemokratisch.
Aber die großen Berliner Hauptstraßen zum Beispiel werden doch auch in 30 Jahren noch gebraucht und müssen ohnehin erhalten werden.
Aber was ist, wenn das Land die Schlaglöcher auf dem Columbiadamm nicht stopfen will? Schon kann es zu Regressansprüchen der US-Firma kommen. Und es gibt ja noch mehr Risiken: Was ist zum Beispiel, wenn eine der beteiligten Banken Pleite geht? Wenn das Risiko beherrschbar wäre, dann könnten die Städte sich doch dagegen versichern lassen. Aber keine Versicherung bietet das an.
Jedes private Unternehmen kann über Cross-Border-Leasing seine Einnahmen aufbessern. Warum sollten Städte das nicht machen?
Unternehmen sind dafür uninteressant, weil sie Pleite gehen könnten. Die Städte sind unbankrottbar, das zahlt dann der Bürger. Früher oder später wird es zu Prozessen kommen, ob die Stadt ihre Verpflichtungen eingehalten hat. Gerichtsstand ist New York, es gilt amerikanisches Recht. Ein Rechtsstreit kann in 10 oder 15 Jahren einer Stadt das Rückgrat brechen. Die Schadensersatzsummen sind ja keine Peanuts. Und dann sind erst recht alle sozialen Einrichtungen massiv in Gefahr.
INTERVIEW: SEBASTIAN HEISER