piwik no script img

„Das ist ein Justizskandal“

■ Im Fall Oliver Neß wird Haupttäter Andreas V. nicht angeklagt / Anwalt Getzmann: Komplott von Strafverfolgern und Politik Von Silke Mertins

„Das ist ein beispielloser Komplott zwischen Staatsanwaltschaft, Polizei und Politik.“ Oliver Neß' Rechtsanwalt Manfred Getzmann ist über die Nachricht, daß zwar drei Polizisten angeklagt werden, der Haupttäter Andreas V. aber laufen gelassen wird, schier entsetzt. Der nicht angeklagte Andreas V. war der erste, der dem Journalisten Oliver Neß im Mai 1994 auf der Gänsemarkt-Demonstration gegen den Rechtsradikalen Jörg Haider grundlos und brutal mit der Faust ins Gesicht schlug. Mehrere Zeugen, unter anderen taz-Redakteur Kai von Appen, stützen die Aussage, daß Andreas V. es war, der Neß als erster zusammenschlug. Trotzdem stellte Staatsanwalt Martin Slotty das Verfahren gegen den Prügelpolizisten ein.

Begründung: Dem Zivilpolizisten sei nicht nachzuweisen, daß er Neß niedergeschlagen hätte. Auf den Videobändern – von Polizei und Fernsehsendern – sei der Vorfall nicht zu sehen gewesen. Deshalb sei es „nahezu ausgeschlossen“, daß es Andreas V. war, der zuschlug, erklärt der Sprecher der Staatsanwaltschaft Rüdiger Bagger. Was man auf den Videofilmen nicht sieht, ist demnach auch nicht existent. Diese Interpretation der Staatsanwaltschaft „ist nicht mit Logik und auch mit nichts anderem zu erklären“, so Getzmann. „Es wird so getan, als gebe es gar keine Zeugen.“

Nach den Aussagen derer, die den Vorfall beobachtet haben, gab es zwei Prügelszenen: Mehrere Polizisten warnten den als linken Journalisten bekannten Oliver Neß – der unstrittig nicht zu den Veranstaltungs-„Störern“ gehörte – sich in acht zu nehmen. „Heute bist du dran!“, schrie ihn einer an. Dann stürmt Andreas V. auf den Journalisten zu, schlägt ihm brutal mit der Faust ins Gesicht, Neß rappelt sich hoch, hebt seine Brille auf und taumelt rückwärts. Jetzt gerät er ins Blickfeld der Videokamara, wird von mehreren anderen Polizisten erneut angegriffen, zu Boden geschlagen und schwer mißhandelt. Auch hier mischt wieder Andreas V. mit (siehe Foto).

Die Staatsanwaltschaft kommt jedoch zu der Überzeugung – diese zweite Szene gibt es auf Video –, daß Andreas V. nur „praktische Kollegenhilfe“ geleistet habe und sich über die „Unrechtmäßigkeit“ der Verhaftung nicht im klaren war, so Bagger über die Gründe zur Verfahrenseinstellung. Auch die Frage, ob Andreas V.s „Fixierung“ das Maß an Gewalt überschritt, „das für eine rechtmäßig gehaltene Festnahme erforderlich ist“, verneint die Staatsanwaltschaft klar.

Im Ergebnis werden nun zwar drei andere Polizisten angeklagt, doch der Haupttäter und Initiator der Gewaltätigkeiten wird weder wegen Körperverletzung im Amt, noch wegen Nötigung und Freiheitsberaubung angeklagt.

„Hier soll offensichtlich der Haupttäter reingewaschen werden“, so Getzmann. „Spätestens ab heute muß man nicht nur von einem Polizeiskandal, sondern auch von einem Justizskandal sprechen.“ Eigentlich hätte die Staatsanwaltschaft Rechtsanwalt Getzmann vor der Entscheidung, ob Anklage erhoben wird oder nicht, „rechtliches Gehör“ gewähren müssen. Das ist jedoch nicht geschehen; dagegen hat der Anwalt Beschwerde eineglegt.

„Der ganze Komplex – Staatsanwaltschaft, Polizei und Politik decken sich gegenseitig – bewegt sich immer mehr von demokratischen Strukturen weg“, resümiert Getzmann den Fall Oliver Neß.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen