Das besondere Fußball-Lexikon: tannenbaum, der
Der "Tannenbaum" – nur seine bestickte Jeansweste weist ihn noch als Verwandten des Fußballrockers aus. Typisch sein Lametta aus Schals und seine friedfertige Gesinnung.
ber und über mit Vereinsschals behängt, steht der Tannenbaum in der Kurve und muss sich keine Sorgen mehr machen, dass er umgeholzt wird. Denn nur die bestickte Jeansweste weist ihn noch als Nachfahren des Kuttenfans aus, der wiederum vom Fußballrocker abstammt, diesem Geschöpf aus dunkel blutigen Zeiten. "Ich bin Rocker, ich bin Rocker, doch ich steh nicht auf Gewalt", nölte Udo Lindenberg damals und das Panikorchester spielte so schwerfällig dazu, als wäre den Musikern dieser Unsinn unangenehm. Denn wozu sollte man denn sonst Rocker sein, wenn man nicht dumpf und stumpf zuhauen durfte? Also bitte! Gerade in der Ausführung als Fußballrocker, zu der man nicht einmal eine frisierte Kreidler Florett (Führerschein Klasse 5) brauchte, war die Ausübung von Gewalt jeglicher Raffinesse enthoben.
Sie bedurfte keiner tiefgehenden Begründung, wie beim hibbeligen Hooligan späterer Jahre, der als Gegenstand endloser Sozialforschung eine Aura dunkel umwölkter Sinnhaftigkeit bekam, die aber nicht verhinderte, dass auch er im Museum der Jugendkulturen verschwand. Von dort büchst er nur noch gelegentlich aus, wenn etwa Millwall mal wieder gegen West Ham United spielt und Familienväter mit schwabbeligen Bäuchen bei Schlachten nach alter Sitte über den Platz laufen und man denkt: Die Michelin-Männchen sind los.
Längst regiert heute der Ultra die Kurven und gibt seiner Gegnerschaft zum modernen Fußball in Schriften Ausdruck, gegen die Analysen aus "Texte zur Kunst" oder Positionspapiere der RAF wie oberflächliches Geplapper wirken. Der Tannenbaum, wie ihn die anderen im Fanblock abschätzig nennen, indes steht mit all diesen Schals an den Handgelenken nur noch am Rande.
Ob er in seiner bierseligen Einfalt wohl glaubt, dass er ein harter Typ ist, weil sein Style vom Fußballrocker abstammt? Der trug als Erster die von Müttern oder Freundinnen gestrickten Langschals in Vereinsfarben und die von Motorradclubs abgeschauten Jeanswesten mit Vereinswappen. Zusätzlich waren auf die Kutten liebevoll gestaltete Aufnäher appliziert, in denen der Ablehnung des 1. FC Köln etwa durch einen am Galgen baumelnden Geißbock Ausdruck gegeben wurde. Mitunter taten es aber auch mit Kuli aufgekrakelte Losungen: "Tod und Hass dem HSV!" Ähnlich feinsinnig war das Liedgut ("Der Tag, als der FC Schalke starb / und alle Essener sangen").
Abneigungen wurden deutlich formuliert und Konflikte blutig ausgetragen. Zu den wesentlichen Grabgaben dieses Homo neanderthalensis der Fankultur gehören daher Springmesser, Ketten und mit Sand gefüllte Bierflaschen sowie die Wunderwaffe jedes Seventies-Neurotikers: der Nunchaku. Dieses aus Japan stammende Würgeholz verbindet zwei Holzstäbe mit einer kurzen Eisenkette und konnte auf dem Schulhof wie vor dem Fußballstadion auch als Schlagwaffe eingesetzt werden. Allerdings bestand bei unsachgemäßem Gebrauch des Nunchaku höchste Gefahr der Selbstverletzung.
Deshalb bevorzugte der Fußballrocker letztlich den Schlagring, weil dieser auch bei den an Spieltagen häufigen Alkoholintoxikationen noch einigermaßen zuverlässig eingesetzt werden konnte. Die Krankenhäuser in der Nähe der Stadien waren auf ausgeschlagene Zähne, gebrochene Nasen und Arme eingestellt. Und noch heute frage ich mich, ob jenes nachgerade ikonografische Stillleben, das ich einst auf einer Treppe in der Ostkurve des Bochumer Ruhrstadions beschauen konnte, wohl von einem Sanitäter aufgelöst wurde. Dort lag der Träger einer blutbesudelten Jeansweste volltrunken auf den Stufen, und bestickt war sein wunderbares Stück aus klassischem Denim mit einem selbstgestalteten Wappen: "Randale-Zentrale Bochum-Grumme".
Oh Tannenbaum, wie schön ist dein Lametta aus Schals, denn damit ist keine Randale mehr drin. Du willst an Spieltagen nur noch deine Mannschaft "kämpfen sehn", am Trainingsplatz stehst du brav nach Autogrammen an, bewunderst die dicken Autos der Spieler und bist ist es einfach: der unmoderne Fußball.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Müntefering und die K-Frage bei der SPD
Pistorius statt Scholz!
Kampf gegen die Klimakrise
Eine Hoffnung, die nicht glitzert
Rentner beleidigt Habeck
Beleidigung hat Grenzen
Unterwanderung der Bauernproteste
Alles, was rechts ist
Angeblich zu „woke“ Videospiele
Gamer:innen gegen Gendergaga
Die Brennelementefabrik und Rosatom
Soll Lingen Außenstelle von Moskaus Atomindustrie werden?