■ Berliner sterben aus: Das Venedig-Syndrom
Rien ne va plus. Die Nachricht vom Bevölkerungsrückgang in der Stadt ist wie der Kuß mit der eigenen Stoßstange. Junge Familien fliehen ins Umland, statt in die schönen Neubaugebiete zu ziehen. Die Geburtenrate sinkt, weil jene, die dableiben, es nicht oft genug miteinander treiben. Macht Berlin sexmüde? Demgegenüber wird beerdigt, was das Zeug hält. Ausländer trauen sich immer weniger in den Großstadtdschungel. Die Wirtschaft investiert nicht, räumt aber ab. Ist Berlin eine sterbende Stadt, erfaßt uns das Venedig-Syndrom? Daß dabei noch Stadtentwicklungssenator Volker Hassemer meint, es bestehe kein Grund zur Panik – wir kämen wieder –, kann nur als völlige Verkennung der Realitäten oder als grober Unfug verstanden werden. Spaß beiseite. Daß aus dem schönen Boomtowntraum mit rasanten Zuwächsen, vielen Kindern sowie explodierenden Bilanzen nichts geworden ist, haben die Spatzen schon von den Dächern gepfiffen, als die Politiker noch damit hausieren gingen. Lachhaft, an die Mär vom Hauptstadtbonus, von Olympia 2000 und vom schnellen Umbau zur Dienstleistungscity zu glauben. Gut, nicht alles kann gelingen, gegen einen Nawrocki ist niemand gefeit. Aber Berlin hat viel Kapital verspielt, weil es anders, schick und neu sein wollte. Allein der Abbau von Industriearbeitsplätzen, preiswerten Wohnungen und Gewerberäumen, allein der teilweise Entzug des öffentlichen Raums, allein die Biederkeit im Umgang mit politischen und kulturellen Entscheidungen haben einigen genügt. Es dürfen nicht mehr werden. Rolf Lautenschläger
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