Das Sehnsuchtspotential der EM: Sommermärchen, später
Während eines Turniers wird jeder dahergerollte Ball temporär mit "nationalem Selbstwertgefühl" aufgeladen. Aber auch die EM 2008 wird Deutschland keinen idealtypischen Märchenstoff bieten.
Märchen können uns auch heute noch in die Welt mächtiger Wünsche und Träume entführen. Sie sind sowohl Spiegel unserer Erfahrungen wie auch Erinnerungen einer Sehnsucht, die weiter reicht als all das, was wir erfahren: Wer sich also immer noch wundert, dass Deutschland mit seinem "neu erwachten nationalen Selbstwertgefühl", mit dem neuen Status "Märchenland" unverkrampfter umgeht als beispielsweise mit dem weniger zauberhaft klingenden Status "Einwanderungsland", der kehrt das unerschöpfliche Sehnsuchtspotenzial, die sinnstiftende Kraft, die der Deutsche seiner Romantik zuspricht, schlichtweg unter den Rasen. Die Halbwertszeit von Sehnsucht kommt der von Plutonium 244 gleich, Romantik, die deutsche zumindest, scheint weder kompostier- noch geringfügig wandelbar zu sein.
Kein Wunder also, dass vieles, was zur EM-Vorbereitung als neu präsentiert wurde, archaisch bis auffällig bekannt daherkam: Unsere weit in die Vergangenheit reichende Sehnsucht entwirft den Mythos "neuer Mann" und dichtet ihm idealtypische Eigenschaften homerischer Epen genau so an wie die von Frauenzeitschriften-Umfragen der letzten 20 Jahre. Wir sehen Klopp und Hitzfeld, Klasnic und Ballack weinen, und wir jubeln ob der "neuen Empfindsamkeit", die den Fußball erreicht hat.
All das können und dürfen wir: Wenn 2008 Jogi Löw und seine Mannen im Werbefilm als Naturburschen mit Filzhut und Hanfseil einen Gipfel stürmen und dabei jegliches Outdoor-Equipment als Spielerei für Weicheier verkünstelt neuzeitlich aussehen lassen, kommt niemand ernsthaft auf die Idee, der Nationalelf vorzuwerfen, auf Riefenstahl-Ästhetik und sonstigen Nazi-Krams abzufahren. Gleichzeitig sind wir irritiert von Löws und Ballacks "abgeschlagenen Köpfen", von "perversen polnischen Collagen" die es, Fußballgott und Fairness sei Dank, nicht schaffen, das polnisch-deutsche Verhältnis zu erschüttern. Und wir sind erschüttert über deutsche Hooligans in Klagenfurt, die sich vorm Spiel nationalsozialistischer Parolen bedienen.
Womit der Märchenbegriff ins Wanken gerät: Es liegt nicht in der Natur des Märchens, gerecht zu sein oder gut auszugehen. Für Ambivalenz stand das Märchen allerdings auch noch nie. Seine Symbolik sollte bitteschön verlässlich eindeutig sein. Immerhin, in der 20. (Tor), der 72. (Tor) und den restlichen 88 Minuten hat uns die deutsche Nationalelf am Sonntag auf Klagenfurter Rasen gezeigt, wie märchenhaft Fußball sein kann, wie die Erfüllung eines Fußballtraums konkret aussehen sollte. Doch bereits Podolskis verhaltene Freude darüber, Polen, das Land, aus dem ein Teil seiner Familie stammt, zu besiegen, legt nahe: Fußball ist eben doch mehr als nur ein Spiel.
Was also ist das Ziel unserer Sehnsüchte? Im Grunde nicht mehr als die Rückkehr zum Urzustand "Unschuld", in dem das Ansehen einer Gesellschaft nicht von Siegen abhängt. Aber ach meio! - diesen Urzustand gibt es ja gar nicht. Und falls doch, ist die Rückkehr für uns bestimmt nicht möglich.
Deshalb sollten wir unsere Sehnsucht für die nächsten Jahre revolutionärerweise auf die Zukunft konzentrieren, auf die realistische Auseinandersetzung mit real existierenden Problemen. Anstatt also jeden dahergerollten Ball zumindest temporär mit "nationalem Selbstwertgefühl" oder ähnlichem Quatsch zu identifizieren, könnten wir uns beispielsweise die Frage stellen, warum der vergleichsweise alte Status "Einwanderungsland" noch immer so viel weniger positive Assoziationen in uns aufkommen lässt als der der neue Status "Weltmeister der Herzen".
Noch ist zweifelhaft, ob Österreich (das Land, dessen Wein laut Londoner Times nach Fuchsurin schmeckt, und das es immer dann in die Nachrichten schafft, wenn ein Vater ein unterirdisches Gefängnis entworfen und darin ein bedauernswertes Kind versteckt hat) und die Schweiz (deren Bewohner, was Fleiß, Disziplin und Ordnung betrifft, versuchen, deutscher als die Deutschen zu sein) an unser Sommermärchen 2006 herankommen. Die Klischees allerdings, gegen die jede einzelne Nation während der EM 2008 ankämpfen muss, die Hauptproblematik, mit der allein die Austragungsorte der drei weltgrößten Sportveranstaltungen seit 2006, also Deutschland, Österreich, die Schweiz und China zu kämpfen haben, legen nahe: Der Segen könnte schon bald zum Fluch werden. Die neue Faustregel des Sports könnte lauten: "Austragungsort bzw. der Wunsch, der Welt zu zeigen, wer und was wir wirklich sind", bedeutet "ernsthaftes Imageproblem". Wer also zu sehr am Image poliert, hat garantiert einen Weltkrieg angefangen, eine seelenkranke Nation oder nimmt es nicht so genau mit den Menschenrechten.
Möglicherweise unrealistischste aller Sehnsüchte, die dennoch den Anspruch erhebt, realitätsbezogen zu sein: Bevor es zu spät und der Ruf vollständig dahin ist, das Hirn bitte nicht weiter mit infantilen, emotionsgeladenen und rückwärts gewandten Märchenträumen blockieren, nicht auf Teufel komm raus das Image polieren, sondern die Welt da verbessern, wo sie es am nötigsten hat. Da haben wir es dann wieder, das Einwanderungsland. Das positive Image kommt dann von allein. Und irgendwann … stellt sich vielleicht so was wie ein wirklich märchenhafter Zustand ein.
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