: Das Ohr vom Tisch nebenan
■ Spitzelberichte aus Eimsbüttler Kneipen der Jahrhundertwende
Die Kneipe wird vielgeliebt: Sie bietet gemeinschaftliche Öffentlichkeit. In der Trinkgaststätte ist Dampfablassen möglich, wenn das ein oder andere Bier die Zunge gelöst hat und das ungeschützte Sprechen über Alltagssorgen, Politik und schlichtweg alles, was Kopf und Herz bewegt, beginnt.
Sielke Salomon und Patrick Wagner von der Galerie Morgenland haben jetzt eine gelungene Auswahl speziell jener Gespräche zusammengestellt, die Polizeispitzel in Eimsbüttler Kneipen um die Jahrhundertwende erlauschten. Nach dem Anschluß Hamburgs an den Zollverein (1888) war es in der Hansestadt zu rapiden Miet- und Preissteigerungen gekommen, was besonders die Arbeiter hart traf. Infolge der Cholera-Epidemie von 1892 wuchs die Kritik an sozialen Mißständen und dem Versagen der Verwaltung – Grund genug für die Politische Polizei, Spitzel zur ,Wirtschaftsvigilanz' ausschwärmen zu lassen, um möglichst unverstellte Ansichten der Arbeiterbevölkerung auszukundschaften.
So handeln ihre Berichte von der Wohnsituation, den Arbeitskämpfen und den politischen Auffassungen der zumeist sozialdemokratischen Kneipengänger, die auch mit Kritik an „ihrer“ Partei nicht sparen: „Es sei jetzt schrecklich, wie die öffentlichen Versammlungen so schlecht besucht würden. Ihre Genossen würden keine Interessen mehr für die Partei zeigen wie in früheren Jahren.“
Die Stimmungen und Meinungen der Eimsbüttler Arbeiter im Wilhelminismus muten fremd und vertraut zugleich an: „Mensch, fang hier doch nicht von Revolution an zu quasseln. Das mußt Du Dusel doch wissen, daß ein Gewalt-Aufstand die größte Dummheit wäre, die wir machen könnten.“ Was hier an Empörung, Leidenserfahrung und Realitätssinn überliefert ist, lohnt die Lektüre.
Frauke Hamann
„Ich erlauschte folgendes Gespräch: ...“ Mit Polizeispitzeln durch Eimsbütteler Kneipen der Jahrhundertwende, 112 Seiten, 8,- Mark
Am morgigen Dienstag um 19.30 Uhr liest Marlies Engel aus den Spitzelberichten, und die Herausgeber stellen ihre neue Broschüre in der Galerie Morgenland, Sillemstraße 79, vor.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen