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Das Mädchen, die Mutter und Stalin

■ Neu im Kino: „Der Walzer auf der Petschora“ von der georgischen Regisseurin Lana Gogoberidse ist ein großartiger Film über eine noch größere Trauer. Es ist ihre virtuos erzählte eigene Lebensgeschichte

Die Verbrechen, die Fakten und Strukturen des Stalinismus glaubt man heute gut zu kennen: Seit die Geheimarchive der ehemaligen Sowjetunion geöffnet wurden, ist in diesem Gebiet viel wichtige Forschungsarbeit geleistet worden. Aber wie sich der Stalinismus anfühlte, in welche Gemütszustände und Seelenpein er seine Opfer stürzte, ist heute nur noch schwer nachzuempfinden. Die Regisseurin Lana Gogoberidse aus Georgien hat 1937 als Kind miterleben müssen, wie ihr Vater erschossen und ihre Mutter für viele Jahre in die Verbannung geschickt wurde. „Walsi Petschorase“ („Der Walzer auf der Petschora“) ist ihr autobiographischer Film über diese Zeit. Die international renommierte Regisseurin, die seit 1958 Filme macht, sagt, dies sei die Geschichte, die sie schon immer erzählen wollte.

Gogoberides montiert hier zwei parallelle Erzählstränge: Da ist zum einen die 13-jährige Anna, die am Anfang des Films aus einem Waisenhaus flüchtet und in das Haus ihrer Familie zurückkehrt. Aber dieses ist inzwischen von einem KGB-Offizier besetzt worden, der ihr auch gleich klarmacht, dass ihre verhafteten und verbannten Eltern alle Rechte auf Haus, Einrichtung, ja sogar Briefe und Fotos verloren haben.

Aber weil er einst eine Tochter mit dem gleichen Namen verloren hat, lässt er Anna bei sich wohnen, und zwischen den beiden entwickelt sich ein sehr kompliziertes und widersprüchliches Verhältnis, das für den scheinbar unangreifbaren Geheimpolizisten schließlich genauso verhängnisvoll ist wie für das völlig entwurzelte Mädchen. Dessen Mutter irrt inzwischen mit einer Gruppe von gefangenen Frauen durch eine Flusslandschaft im winterlichen Norden Russlands. Kein Gefangenlager will die Frauen aufnehmen, die zur Zwangsarbeit nicht taugen, und so laufen sie unbehaust durch eine erfrorene Landschaft, die genau die passende Metapher für ihren Gemütszustand liefert.

Die Montage ist die große Kunst dieser Art von Kino, und darin entpuppt sich Gogoberidse als eine fast schon klassizistische Erbin von Eisenstein und Wertow. Die Doppelgeschichte wird zwar chronologisch erzählt, aber die Sprünge von Szene zu Szene, von einem Strang zum anderen sind jeweils assoziativ. Eine Bewegung, eine Regung, ein Detail spiegelt sich in einem Widerpart in der anderen Welt, und gerade mit dem Kontrast zwischen dem milden, (aber nur scheinbar idyllischen) Georgien und der tödlich kalten Schneelandschaft arbeitet die Filmemacherin virtuos. Auch die Archivbilder von begeisterten Sowjetbürgern auf Kundgebungen und unter Volldampf stehenden Lokomotiven sind sehr raffiniert in die Spielszenen eingefügt.

Die Geschichte von Anna ist herzzerreißend, und man merkt deutlich, dass die Filmemacherin hier von ihrem eigenen, monumentalen Schmerz erzählt. Aber sie drückt nicht auf unsere Tränendrüsen. Es ging ihr darum, die Geschichte nicht so sehr mit Anteilnahme, sondern als Beobachterin zu schildern. Der Hauptgrund dafür, warum dieser filmische Trauergesang nicht zu düster und schwer wirkt, liegt in der Besetzung der Hauptrolle. Die junge Schauspielerin Guram Pirzchalawa spielt die Anna mit solch einer spröden Leichtigkeit und Grazie, dass man sie nie auf das reine Opfer reduzieren kann. Die Mutter ist nur noch eine wandelnde Leiche, aber bei Anna spürt man all das ungelebte, reiche Leben, das sie noch vor sich haben könnte, wenn die Umstände es erlauben würden. Gerade weil uns Gogoberidse die Emotionen nicht aufzwingt, wirken ihre Trauer, Wut und ihr trotziger Lebenswillen so intensiv und wahrhaftig.

Hier erzählt eine von ihrem tragischen Leben unter dem Stalinismus, und sie tut es als eine große Künstlerin. Wilfried Hippen

„Walsi petchorase“ läuft in der Originalfassung mit Untertiteln von Sonntag, 27. August, bis Dienstag, 29. August, jeweils um 20.30 Uhr im Kino 46

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