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Das Leben hinter der Tür

Karriere im Konjunktiv und Antikarriere als Form des Humors: Wäre Britjazz so populär wie Britpop, wäre der Saxophonist Lol Coxhill ein Star. So ist er ein außergewöhnlicher Klang- und Überlebenskünstler, der auch vor Straßenmusik nicht zurückschreckt  ■ Von Christoph Wagner

Erfolg und Geld sind zweierlei. Eine Lektion, die auch Lol Coxhill gelernt hat. Wenn er abends im Hinterzimmer irgendeines Londoner Pubs seine vertrackten Saxophon-Improvisationen bläst, kann man die Zuhörer oft an zwei Händen abzählen. Und manchmal reicht die Gage nicht, um mit dem Taxi nach Hause zu fahren.

Lol Coxhill ist ein freundlicher Exzentriker mit rundem Bauch, kahlem Kopf und Nickelbrille, der bei Konzerten gerne bunte Hawaiihemden trägt. Sein Saxophon hat er vor 45 Jahren für acht Pfund auf dem Flohmarkt erworben. Daß er mit 66 als Altmeister der englischen Jazzszene gilt, daß er gerade heute wieder bei jungen Elektronikern hoch im Kurs steht, die ihn als Klanglieferanten für ihre Techno- und Ambient-Experimente heranziehen, nimmt er mit freundlicher Gelassenheit hin. In seiner mehr als 40jährigen Laufbahn hat er zu viele unterschiedliche Sparten, von Soul und Rhythm & Blues über Bebop bis Punk durchquert, um nicht zu wissen, daß Aktien steigen und fallen können: Wenn du es geschafft hast, hast du es noch lange nicht geschafft!

Immerhin: Anfang der 70er Jahre schien sich alles prächtig zu entwickeln. London war musikalisch der Nabel der Welt und Coxhill mittendrin. Als Teil des gerade erblühten Underground spielte er mit Musikern, die mit Gruppen wie Soft Machine und Caravan berühmt wurden. Als der ehemalige Soft-Machine-Gitarrist Kevin Ayers 1971 eine neue Band namens The Whole World zusammenstellte, war Coxhill mit von der Partie. Neben ihm stand ein Siebzehnjähriger auf der Bühne, der Baß spielte und Mike Oldfield hieß. Zwei Jahre später landete das Milchgesicht mit „Tubular Bells“ einen Millionenerfolg – während Coxhill weiter durch verrauchte Clubs tingelte, immer auf der Suche nach dem nächsten Gig.

Coxhill lebt in dürftigen Verhältnissen in einem Arbeiterwohnblock im Londoner Stadtteil Clerkenwell. Betritt man seine Wohnung und geht den schmalen Gang entlang, kommt man an einer unscheinbaren Tür vorbei. „Dahinter befindet sich mein Leben“, sagt Coxhill – und meint damit eine Abstellkammer, die vollgestopft ist mit Tonbändern, Kassetten und Filmrollen. Er stöbert im Chaos und fischt eine Videokassette mit der Aufschrift „Rufus Thomas“ heraus. Darauf ist ein Auftritt von 1965 festgehalten, Coxhill in der Fernsehshow „Top of the Pops“, wo er den amerikanischen Soulsänger begleitete, der mit „Walking The Dog“ gerade einen Hit hatte. Für eine anschließende England-Tournee hatte Rufus Thomas die Londoner Gruppe The Chessmen engagiert, deren Saxophonist Coxhill war. „Wir haben nur eineinhalb Stunden geprobt. Das reichte, denn wir kannten seine Songs sowieso auswendig“, erinnert er sich. „Dann sagte er: ,Laßt uns essen gehen!‘ Übrigens haben wir anschließend bezahlt.“

Trotzdem wurde der TV-Auftritt als Erfolg verbucht. Coxhill hängte seinen Brotberuf (als Buchbinder) an den Nagel, um sich ganz der Musik zu widmen – was seinem Vater so wenig behagte, daß er noch etliche Jahre den Mitgliedsbeitrag in die Gewerkschaftskasse bezahlte, um seinem Sohn die Rückkehr in einen ehrenwerten Beruf offenzuhalten.

Doch Lol Coxhill fand vorerst genug Engagements, um über die Runden zu kommen. Regelmäßig wurde er als Tourneemusiker gebucht, begleitete Martha & The Vandellas, Screamin' Jay Hawkins, Otis Spann und Champion Jack Dupree. Auch in London selbst spielte jeder mit jedem, der spätere Colosseum-Saxophonist Dick Heckstall-Smith gehörte ebenso zum Bekanntenkreis wie Jack Bruce, Ginger Baker und Alexis Korner, der „Vater des britischen Blues“ und Ziehvater der Rolling Stones. Eines nachts tauchte ein junger Krauskopf mit E-Gitarre auf und fragte, ob er einsteigen könne. „Wir spielten ausschließlich Rhythm & Blues“, erzählt Coxhill über seine Begegnung mit Jimi Hendrix. „Ich hätte gerne freier mit ihm musiziert, aber er hielt sich an die Musik, die er kannte. Es war ganz zu Beginn seiner Karriere, doch er hatte schon einen Namen. Er stieg allerdings nicht bei uns ein, um auf sich aufmerksam zu machen, er wollte nur mitspielen.“

Die Zeiten schienen nostalgisch noch einmal wiederzukehren, als Coxhill vor ein paar Jahren von Charlie Watts engagiert wurde – für eine Revue alter Jazznummern. Watts wollte Coxhill unbedingt dabeihaben, weil er seinen Saxophonton aus der Zeit noch im Ohr hatte, als er selbst noch in einer Werbeagentur jobbte und beide in den gleichen Clubs und Kellerbars jammten. „Charlie ist kein Virtuose, aber er kann den alten Jazz authentisch und echt klingen lassen. Ich wäre froh, ich hätte manchmal einen Drummer wie ihn dabei. Aber ich bezweifle, daß ich ihn mir leisten könnte.“

Zwischen diesen biographischen Glanzlichtern Coxhills dünnte sich die Auftragslage gelegentlich so aus, daß er auf ein Zubrot als Straßenmusikant angewiesen war. Doch: „Always look on the bright side...“ Ob Baker Street, Waterloo Bridge oder King's Cross Station – Tag für Tag spielte er so lange, bis seine Glatze und sein Sax Bestandteil des Straßenbilds geworden waren. Kollegen konnten ihn für den abendlichen Gig dort abholen. Nicht schlecht staunten die Besucher, wenn sie den Typen, der gerade mit seinem Sax für die Schlange vor der Kasse gespielt hatte, auf der Saalbühne wiedersahen.

Immerhin ist das auch eine Methode, zu einem Soloprogramm zu kommen. Bald baute Coxhill seine Improvisationen auf Konzertlänge aus, wurde angesogen von der kleinen Schar Freejazzer, die im Londoner Little Theatre Club ihr Domizil hatten. Die Sessions mit John Stevens, Trevor Watts, Evan Parker und Derek Bailey hatten die Sprengung aller rhythmischen und harmonischen Fesseln als einziges Ziel. Entsprechend wechselhaft war der Zuspruch. „Manchmal war das Publikum sehr klein, und manchmal waren überhaupt keine Zuhörer da. Trotzdem war es die Sache wert, weil ich dabei meine eigene Spielweise entwickelte und aufhörte, amerikanische Vorbilder zu kopieren.“

Von da an hat Coxhill nie gezögert, wenn sich die Chance zur Antiroutine bot. Als der Punk los war und einige Mitglieder von The Damned, die ihn an einer Tankstelle erkannten, ihn prompt zu einem gemeinsamen Auftritt einluden, war Coxhill gleich dabei. Ein paar Monate später traf er die Band wieder, und obwohl er nicht einmal sein Saxophon dabeihatte, setzte Coxhill sich in einem abgewetzten Sessel auf die Bühne, zusammen mit einer Wohnzimmerlampe, die er zu einem kleinen Theater-Set arrangierte. Das Publikum fühlte sich von der Art, wie er im Sessel seelenruhig las, dermaßen provoziert, daß Speichel floß und flog. Als die ersten Pappbecher die Bühne erreichten, bat das Management den Herrn aus Angst vor Krawallen ins Off.

Vielleicht handelt es sich bei Coxhills erfolgreicher Antikarriere also auch um eine Form des Humors. Immer, wenn die Zeichen auf Erfolg stehen, lacht Herr C. die Verhältnisse entzwei. So daß das eigentliche Leben immer hinter der nächsten Tür verbleibt. Man könnte jedenfalls auf solche Ideen kommen angesichts der dadaistischen Schlagercombo The Melody Four, bei der der Mann auch mitmischte. Zusammen mit dem Tastenspieler Steve Beresford und dem Saxophonisten Tony Coe mixte er Schlagermelodien, Salontanzweisen und Marx-Brothers- Filmmusiken mit Inbrunst zu einem Bastard zwischen Kitsch und Kunst.

Selten lehnt Coxhill ein Angebot ab. Er kann es sich einfach nicht leisten. In diesem Sinne kommen ihm auch die Avancen aus der Elektronikszene gerade recht. Technobands wie Ultramarine oder 4600 Fibres haben ihn schon zu Studioterminen eingeladen, mit dem Ambient-DJ Mixmaster Morris hat er etliche Clubnights hinter sich. Aus Japan kam die jüngste Offerte. Die Computer-Noise- Band Totsuzen Danbell möchte ihn auf ihrem nächsten Album dabeihaben. Kurz vor dem Siebzigsten müßte also ein neues Karrierehoch erreicht sein. Das Pensionsalter wird Coxhill nicht im Weg stehen. In Rente gehen kann er ja nicht.

Neuerscheinung: Lol Coxhill & Veryan Weston: „Boundless“ (Emanem Records 4021. Kontakt: 3 Bittacy Rise, London NW7 2HH)

Wiederveröffentlichungen: Kevin Ayers & The Whole World (mit Lol Coxhill): „Shooting At The Moon“ (Beat Goes on Records BGOCD13)

Lol Coxhill: „On Ogun“ (Ogun Recordings OGCD 008)

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