: Das Kundenraster
Mit Millionen von Persönlichkeitsprofilen sieben Firmen Kunden – und diskriminieren sie
von Tarik Ahmia
Lange Wartezeiten bei Call-Centern müssen nicht deshalb vorkommen, weil viele Kunden gleichzeitig anrufen: Es kann auch einfach am falschen Wohnort des Anrufers liegen. Denn viele Call-Center sortieren ihre Warteschleife nach der Wirtschaftskraft der Klientel. Blitzschnell stellt ein Computer anhand der Telefonnummer den Wohnort der Anrufer fest. Wer in einer „schlechten“ Gegend lebt, muss länger warten als gut Betuchte, die mehr Umsatz versprechen.
Das Aussieben der Kunden nach Arm und Reich ist zu einem wichtigen Instrument im Produktmarketing geworden. „Scoring“ nennt sich das Verfahren, mit dem Kunden je nach Branche anhand hunderter Kriterien nach ihrer wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit benotet werden. Weil die Kundenbenotung heute in vielen Branchen üblich ist, hat jeder Bundesbürger viele Scores, denn Banken interessieren sich für andere Kriterien als Mobilfunkfirmen oder Versandhändler.
Das Prinzip ist jedoch immer das gleiche: Ärmere bekommen schlechtere Konditionen. Sie zahlen höhere Zinsen für Kredite, können Waren nur per Vorkasse bestellen oder werden gar nicht als Kunden akzeptiert. Fachleute schätzen, dass mehr als die Hälfte der Banken die Konditionen für Kredite von den Scorewerten der Kunden abhängig macht. Oft werden Kredite allein aufgrund eines schlechten Scorewerts erst gar nicht bewilligt, auch wenn Paragraf 6a Bundesdatenschutzgesetz das eigentlich verbietet. So kann der Zinssatz für den gleichen Kredit bei unterschiedlichen Scorewerten zwischen 5 und 17 Prozent schwanken. Besonders schlecht sind dabei Berliner dran. Die Wirtschaftsauskunftei Creditreform benotet in ihrem „Regionencheck“ die Hauptstadt mit einem miserablen „Risiko Indikator“, weil das Ausfallrisiko für Kredite in Berlin extrem hoch sei. Folge: Berliner zahlen bei Krediten oft drauf.
Mit Schwierigkeiten müssen auch Bewohner sozial schwacher Gebiete rechnen, wenn sie beim Quelle-Versand etwas bestellen. Das Versandhaus stellt ganze Stadtteile mit schlechten „Scorings“ unter Generalverdacht und liefert dorthin nur gegen Vorkasse.
Vielen Kunden ist nicht bewusst, wie präzise die Wirtschaft über ihre Konsumgewohnheiten, Kreditwürdigkeit und Lebensverhältnisse schon Bescheid weiß. Bis zu 400 Einzeldaten haben die Marktforscher von über 90 Prozent der deutschen Haushalte gespeichert. Die Schober Information Group lockt die Werbebranche mit „50 Millionen Privatadressen und 10 Milliarden Zusatzinformationen, selektierbar nach Alter, Geschlecht, Kaufkraft, sozialer Schicht“. Aktuelle Daten liefern die Konsumenten oft selbst an die Datensammler mit ihrer Teilnahme an Bonusprogrammen, Gewinnspielen und Kundenkarten. Emsig speichert die Wirtschaft das Konsumverhalten der Kundschaft und verknüpft es mit hunderten scheinbar harmlosen statistischen Daten über die Bevölkerung. Hausnummerngenau werden so die Bundesbürger nach ihrer individuellen Kaufkraft sortiert. Jeder Straßenabschnitt ist erfasst: Wie alt sind die Bewohner? Wohin reisen sie? Bezahlen sie ihre Rechnungen?
Mithilfe von Computern, schlauer Statistiksoftware und Bergen von Kunden-, und soziodemografischen Daten produzieren die Datenhändler individuelle Konsumprofile, die sie für viel Geld an die Wirtschaft verkaufen. Selbst harmlose Kleinanzeigen werden ausgeschlachtet. Die Firma Koop Direktmarketing sammelt systematisch Autoannoncen, denn wer sein Auto verkauft, will sich oft wieder ein neues kaufen. Anhand der Telefonnummer lässt sich mit geeigneter Software die Anschrift des Inserenten herausfinden. Potenzielle Käufer der Adressen sind Autohersteller, Versicherungen und Banken. 1.000 „Autowechsler-Adressen“ kosten derzeit 333 Euro – ganz legal.
Zwei große Player beherrschen die deutsche Szene: die Bertelsmann Tochter Arvato mit 4 Milliarden Euro Jahresumsatz und der weltweit größte Versandhändler, die Otto Gruppe. Sosehr sich die Datensammler im Hintergrund halten, so bewusst bewegen sie sich beim „Scoring“ in einer juristischen Grauzone. Denn das Bundesdatenschutzgesetz definiert strenge Auflagen, was Unternehmen mit personenbezogenen Daten machen dürfen und was nicht. Doch die Wirtschaft leugnet schlicht, dass ihre Kundenbenotungen unter das Gesetz fallen, weil sie angeblich keine personenbezogenen Daten sind. Schließlich vermischten „Scores“ individuelle Daten mit allgemeinen Daten wie der Wohngegend oder der Berufsgruppe. Datenschützer widersprechen dem vehement (s. Interview).
Auch wenn Scoring in Grenzen gesetzlich erlaubt ist, blicken Datenschützer mit Sorge auf die Praxis, denn die Firmen gewähren keinen Einblick in den Herstellungsprozess der Konsumentenprofile. Klar scheint nur, dass oft Kriterien berücksichtigt werden, deren Verwendung das BDSG eigentlich verbietet. Doch dazu schweigt die Branche ebenso strikt wie zu den Gründen, warum ein Score gut oder schlecht ausfällt.
Selbst ihre gesetzliche Informationspflicht gegenüber Bürgern, deren Daten sie gespeichert haben, scheinen nur wenige Unternehmen ernst zu nehmen, wie das ZDF-Magazin „WISO“ heute Abend berichtet. „WISO“ hat wichtige Firmen und Behörden von Privatleuten anschreiben lassen, die in Deutschland personenbezogene Daten sammeln und auch verkaufen. Nur eine Hand voll der 40 angeschriebenen Organisationen reagierte prompt und beantwortete die Anfrage zu den eigenen Daten gesetzeskonform. Selbst Behörden hielten sich nicht an die Informationspflicht. Den Betroffenen steht der Rechtsweg offen, denn der Bundesgerichtshof hat schon 1984 festgelegt: „Jeder hat Anspruch auf Auskunft gegenüber der speichernden Stelle.“ Oft hilft aber schon das Einschalten der Datenschutzbehörde.
Die Sendung „WISO“ (ZDF) berichtet heute ab 19.25 Uhr, wie Firmen und Behörden gegen die Auskunftspflicht verstoßen