Das Jahr der Ratte: Ratten am Rande des Abgrunds
Anders als in China haben die Nager in Berlin einen ganz schlechten Ruf. Wo sie auftauchen, werden sie bekämpft. Sie leben am liebsten in der Innenstadt.
Ihre Spuren werden der Ratte zum Verhängnis. Dunkelbraune Kugeln liegen auf dem verstaubten Dachboden. Olaf Hunschok deutet auf den Kot. "Das muss ein besonders großes Tier sein." Der Kammerjäger hält die Hände im Abstand von 25 Zentimetern in die Luft. "So lang ist die bestimmt. Ohne Schwanz." Ein Prachtexemplar also, das frech in der Steglitzer Villa herumturnt. Das kann nicht sein, findet der Makler, er will das Haus vermieten. Hunschok soll den Nager vergiften.
Nach dem chinesischen Kalender beginnt heute das Jahr der Ratte. Für Chinesen eine Verheißung: Sie erwarten einen Babyboom, weil das Tierkreiszeichen Schläue, Mut und Unternehmergeist verspricht. In Europa hat die Ratte einen sehr viel schlechteren Ruf: Sie gilt vor allem als Überträgerin von Krankheiten. Wo sie auftaucht, wird sie bekämpft.
Wie an diesem Vormittag in Steglitz. In Jeans und Fleecepulli begutachtet Hunschok den Dachboden. Er holt kleine rote Vierecke aus seinem Eimer. "Sieht aus wie Kamelle, was?", sagt der Makler, der auf der Treppe wartet. Damit die Köder tatsächlich süß schmecken, wendet Hunschok sie in Kakaopulver. Dann verteilt er das Gift.
Die Vierecke enthalten ein Mittel, das die Blutgerinnung verhindert. Die Ratte geht langsam zugrunde. Das ist Absicht. Denn die Nager sind - wie die Chinesen wissen - schlau. Wäre das Tier auf der Stelle tot, würden alle anderen Ratten um das Fressen einen großen Bogen machen - und entwischen.
Wie viele Ratten in Berlin leben, weiß niemand. Hunschok sagt: "Ich habe den Eindruck, dass es in den vergangenen Jahren mehr geworden sind." Detlef Kadler, zuständig für Infektionsschutz beim Landesamt für Gesundheit und Soziales, bestätigt das nicht. Das Landesamt verzeichnet nur die Einsätze gegen Ratten, die gemeldet werden. Im Jahr 2004 rückten die Berliner Kammerjäger demnach rund 4.300-mal wegen der Nager aus. 2005 und 2006 stieg die Zahl der Einsätze um rund 1.000 an. Für das vergangene Jahr vermerkte das Amt 4.800 Rattenbekämpfungen.
Die Tiere leben am liebsten in der Innenstadt. "In Kreuzberg, Mitte, Neukölln und Charlottenburg werden häufig Ratten gemeldet", sagt Kadler. Sie lieben Speisereste und Müll. Was bei Imbissbuden herunterfällt, sei für die Nager ein gefundenes Fressen, so Kadler. Vor allem im Winter ziehen sie sich in Keller und auf Dachböden zurück. Dorthin, wo es warm und trocken ist. Am häufigsten beschweren sich die Berliner über Ratten in Wohnhäusern. Viele melden auch, wenn sie die Tiere durch Parks huschen sehen.
"Mich überläuft immer noch ein Schauer, wenn plötzlich eine Ratte vorbeiflitzt", sagt Olaf Hunschok. Dabei hat er schon einige beobachtet: Seit zehn Jahren arbeitet der 37-Jährige als Schädlingsbekämpfer. Er sagt, der Job mache ihm Spaß. Er komme herum, treffe viele Menschen. "Nur an das Töten kann ich mich nicht gewöhnen."
Hunschok hat früher Tiermedizin studiert. Er träumte davon, auf einem Bauernhof zu arbeiten. "Mit dem ganzen Arm in einer Kuh versinken" - er macht mit rechts eine Rutschbewegung, "solche Sachen, sie wissen schon." Aber das Studium war nichts für ihn. Weil er Geld verdienen wollte, entschied er, sich bei einem Schädlingsbekämpfer ausbilden zu lassen. Heute arbeitet er als Selbstständiger.
Hunschok bietet auch einen Notdienst an. "Manchmal kommen Ratten in die Wohnungen. Sie klettern durch die Rohre nach oben und tauchen im Klo auf", erzählt er. Hunschok betäubt sie mit Chloroform - und bricht ihnen das Genick. "Furchtbar. Danach ist mit mir erst mal nichts anzufangen."
Die Abwasserkanäle nutzen Ratten als Verkehrswege. 9.000 Kilometer Rohre liegen unter der Stadt. In den Schächten und Tunnels sind die Nager vor Blicken und Angriffen geschützt. Viele Kanäle sind für Menschen zu klein, sie werden mit ferngesteuerten Robotern kontrolliert. "Manchmal sieht man, wie eine Ratte vor die Kamera läuft, schnüffelt und kehrtmacht, weil sie nicht vorbeikommt", sagt Stephan Natz, Sprecher der Berliner Wasserbetriebe. Die Kanalarbeiter hängen Köder aus. Auch sie hätten den Eindruck, dass die Ratten in letzter Zeit mehr geworden seien.
Hunschok hat an diesem Vormittag noch einen Termin. In einem anderen Mietshaus steigt er in den Keller hinab. Auf dem Boden liegen Styroporkrümel, von Ratten abgefressen. "Hier leben sicher fünf oder sechs von ihnen", schätzt der Schädlingsbekämpfer. Er hat bereits vor einer Woche Köder verteilt, die sind alle verschwunden. Von toten Ratten keine Spur. Hunschok legt erneut sein giftiges Futter aus. In Berlin gibt es für die Ratten nichts zu feiern.
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