Das Gute am Zeitdruck: Tick. Tack. Tick. Tack.
Alle rufen nach Entschleunigung. Dabei ist Schnelligkeit nicht per se schlecht. Zehn Dinge, die wir dem Zeitdruck zu verdanken haben.
Mauerfall
Problem: Günter Schabowski, Mitglied des Politbüros und des Zentralkomitees der SED, kommt am 9. November 1989 zu spät zur ZK-Sitzung. Dort werden gelockerte Reiseregelungen für die DDR-Bürger beschlossen. Eine "Weltnachricht", sagt Egon Krenz, Honecker-Nachfolger, auf dem Flur zu Schabowski . In der Pressekonferenz verliest dieser die Pressemitteilung. Er weiß nicht, was darin steht, kennt keine Details. Die Stimmung im Saal ist aufgeheizt: "Und ab wann soll das gelten?" "Ab sofort?", rufen die Reporter.
Zeitfaktor: Keiner. Schabowski steht unter Druck. Er weiß nicht, dass die Regelung erst ab dem folgenden Tag gelten soll. Er raschelt mit den Blättern, ruckelt an seiner Brille, schaut zum SED-Genossen links von ihm.
Lösung: Dann sagt Schabowski: "Das tritt nach meiner Kenntnis … ist das sofort … unverzüglich." Die Folge: Überforderte Grenzposten. Tanzende Menschen auf der Mauer. Mauerfall. Ende der DDR und des Kalten Krieges. Wiedervereinigung.
BigMac
Problem: Wir sind unterwegs. Wir haben Hunger. Ins Restaurant gehen? Zu teuer und zu lang. Die mitgebrachte Stulle? Schmeckt fad. Der Magen? Will es heiß und fettig.
Zeitfaktor: Wir! Haben! Keine! Zeit!
Lösung: Doppel-Whopper und große Pommes mit Mayo. Schon in Pompeji soll es antike Schnellimbisse gegeben haben. Im Amerika der 50er Jahre entstanden dann die Fast-Food-Ketten. Und wer Salat isst, hat das Prinzip nicht verstanden.
Der Artikel "Tick. Tack. Tick. Tack." ist Teil des Dossiers über die Zeit in der neuen taz.am wochenende vom 18./19. Mai 2013. Darin außerdem: Ein Gespräch mit dem Zeitforscher Karlheinz Geißler über Rituale, Verzicht und das Schicksal der Uhr, eine Reportage über das Warten in Altenheimen - und Protokolle von Schriftstellern und Politikern, die erzählen, wann sie das Warten einmal genossen haben. Außerdem klingelt die taz mal wieder an fremden Türen - diesmal in Erfurt. Am Kiosk, eKiosk oder gleich im Wochenendabo.
Marathon
Problem: Wir schreiben das Jahr 490 v. Chr., die Athener haben gegen die Perser gewonnen. Ein Läufer soll sich nun auf den etwa 42 Kilometer langen Weg von Marathon nach Athen begeben, um die Siegesbotschaft zu verkünden. Wie für antike Läufer üblich, joggt er die Strecke. So sagt es jedenfalls die Legende.
Zeitfaktor: Wie lang der Läufer von Marathon nach Athen unterwegs war, ist leider unbekannt.
Lösung: Der Läufer überbringt die frohe Kunde. "Wir haben gesiegt!", ruft er den Athenern entgegen. Und fällt tot um. Ein neuer Breitensport ist geboren.
Action
Problem: Ein Asteroid rast auf die Erde zu. // Manni hat die Stofftasche mit 100.000 Mark in der U-Bahn liegen lassen. // Eine Vier-Megatonnen-Atombombe droht Gotham City zu zerstören.
Zeitfaktor: Noch 18 Tage, dann kommt es zum tödlichen Zusammenstoß. // In 20 Minuten findet die Übergabe des Geldes statt. // Die Fernzündung der Bombe steht kurz bevor.
Lösung: Bruce Willis sprengt den Todes-Asteroid mit einer Atombombe ("Armageddon", 1998) // Franka Potente rennt ("Lola rennt", 1998) // Bruce Wayne alias Batman kutschiert die Bombe mit seinem Flugmobil auf das offene Meer, wo sie detoniert. ("The Dark Knight Rises", 2012)
Geiselbefreiung
Problem: Flugplatz Mogadischu, Somalia, 1977: Die deutsche Boeing 737-200 wurde entführt und befindet sich samt Insassen in der Gewalt von palästinensischen Terroristen. Diese fordern unter anderem die Freilassung aller RAF-Häftlinge. Den Piloten haben sie schon erschossen - an Bord befinden sich 500 Gramm Plastiksprengstoff.
Zeitfaktor: Der Anführer "Mahmut" kündigt die Sprengung der Maschine an. Seine Komplizen beginnen die Passagiere mit hochprozentigem Alkohol zu übergießen. Zwanzig Minuten, dann soll die Bombe hochgehen.
Lösung: Operation "Feuerzauber". Der deutsche Einsatzleiter gibt über Funk eine Notlüge durch: Die RAF-Häftlinge seien aus dem Gefängnis entlassen und befänden sich auf dem Weg nach Somalia. In Wahrheit sitzt ein Sondereinsatzkommando des GSG 9 im Flugzeug nach Mogadischu. Sieben Minuten dauert die Befreiung. Drei Terroristen werden erschossen, alle 86 Geiseln gerettet.
Silberpfeil
Problem: Das Auto ist zu schwer. Beim Testwiegen vor dem Eifelrennen, 1934 am Nürburgring, fällt der neu entwickelte Mercedes-Benz W25 leider aus der Reihe. Statt der geforderten 750 wiegt er nämlich 751 Kilogramm.
Zeitfaktor: Am nächsten Tag beginnt das Rennen. Soll der Wagen an den Start gehen, muss etwas passieren.
Lösung: Über Nacht kratzt Rennfahrer Manfred von Brauchitsch den Lack vom Fahrzeug. Darunter kommt glänzendes Aluminium zum Vorschein - der Silberpfeil ist geboren, einer der berühmtesten Rennwagen überhaupt. Der erfüllt nicht nur alle technischen Voraussetzungen, sondern gewinnt gleich sein erstes Rennen.
Ebay-Countdown
Problem: Viele wollen ein und dasselbe - und das treibt den Preis hoch.
Zeitfaktor: Die letzten Sekunden zählen.
Lösung: Wertlose Artikel kreativ aufhübschen. Der Winter, eingekocht im Glas: 2 Euro. Ein mumifizierter Cheeseburger: 5,50 Euro. Der Golf II Bj. 1990 von Angela Merkel: 120.000 Euro. Zumindest im ersten Anlauf - den die Ebay-Verantwortlichen aber unterbrachen. Das Auto wurde dann für 10.165 Euro verkauft.
Bankenrettung
Problem: 35 Milliarden Euro müssen her, und zwar schnell. Eine irische Tochtergesellschaft der Hypo Real Estate steht im September 2008 kurz vor der Pleite. Die Hypo Real Estate hat kein Geld, der Staat muss ran, die Finanzkrise hat den sogenannten Interbankenmarkt zum Erliegen gebracht.
Zeitfaktor: Ein Wochenende. Die Akteure um Peer Steinbrück und Josef Ackermann wissen, dass der Staat die Märkte mit einem Rettungspaket beruhigen muss. Bis zur Börsenöffnung in Tokio, nach deutscher Zeit am Montag, 29. September, 1.00 Uhr, müssen die Konditionen stehen. Andernfalls droht der "Tod des deutschen Bankensystems", sagt Ackermann.
Lösung: Einigung um 1.05 Uhr. Pressekonferenz um 1.10 Uhr. Drei Tage später jedoch teilt der Finanzvorstand der Hypo Real Estate mit, die Liquiditätslage habe sich noch mal verschlechtert. Die Privatbanken ziehen ihre Kreditzusagen zurück. Der Staat muss wieder haften: mit zusätzlich 15 Milliarden Euro.
Lange 90. Minuten
Problem: Champions League Finale 1999, 90. Minute. Bayern München führt, 1:0 gegen Manchester United.
Zeitfaktor: Drei Minuten Nachspielzeit. Bayern stellt sich hinten rein, Manchester braucht Tore. "And they always score", sagt der englische Kommentator mit zitternder Stimme. Eckball Manchester, David Beckham.
Lösung: Sein Kollege Sheringham nutzt den chaotischen Moment, schiebt einen Querschläger ins Tor der Münchener. Sir Alex Ferguson reißt die Arme in die Luft. 93. Minute: nächste Ecke, wieder Beckham. Stürmer Solskjaer hält nur den Fuß hin, der Ball ist drin, 2:1. Und die Bayern? Traumatisiert.
Die Welt
Problem: Gott steht unter Druck, als er die Welt schafft. Licht, Wasser, Tiere. Produktionsfehler sind einkalkuliert.
Zeitfaktor: Gottes Zeitplan gilt unter Wissenschaftlern als ambitioniert: 7 Tage. Zumal er am Sonntag blaugemacht hat.
Lösung: Mangels Zeit kommt die Frau aus der Rippe des Mannes. Auch sonst hätte sich Gott mehr Mühe geben können. Unter den gegebenen Umständen ist sein Werk jedoch ganz passabel. Wie die Welt aussehen würde, hätte er 40 Tage Zeit gehabt, malen wir uns nicht aus.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Bis 1,30 Euro pro Kilowattstunde
Dunkelflaute lässt Strompreis explodieren
Ex-Wirtschaftsweiser Peter Bofinger
„Das deutsche Geschäftsmodell funktioniert nicht mehr“
Studie Paritätischer Wohlfahrtsverband
Wohnst du noch oder verarmst du schon?
Leben ohne Smartphone und Computer
Recht auf analoge Teilhabe
Ansage der Außenministerin an Verbündete
Bravo, Baerbock!
Wissenschaftlerin über Ossis und Wessis
„Im Osten gibt es falsche Erwartungen an die Demokratie“