Das Grünzeug der Stunde

Gaaanz langsam, wie es sich für „Slow Food“ gehört, hat er sich in die Küchen eingeschlichen: der Bärlauch

Der Tag, an dem Bärlauch zum Grünzeug der Stunde wurde, ist tropensonnenklar zu terminieren. Das war, als im ärmlichen Berliner Viertel namens Wedding in einer Eckkneipe namens „Bei Claudi & Kevin“ zur Bulette ein wenig Rucola beigelegt wurde. Eine kulinarische Geste, die der Claudi nicht als solche auffiel, denn das löwenzahnartige Blattwerk war im Supermarkt gerade im Angebot. Und wie der Berliner oder die Berlinerin so sagt: „Det jeht jar nich.“

Schon gar nicht in den Quartieren, wo nicht nur über Hartz IV räsonniert wird, sondern selbiges eine hin und wieder doch sehr anstrengende Realität ist.

Jedenfalls Bärlauch. Findet sich – noch! – in keinem Falafel, weder zur Currywurst noch als Dekoration am Tellerrand zu Königsberger Klopsen. Also nicht in Neukölln, Marzahn oder Reinickendorf. Alles ist neuerdings mit Bärlauch angereichert, beim Italiener in Schöneberg, als Pesto im wohlsortierten Kaufhaus oder als grünliche Flecken in der Sommerrahmpaste der örtlichen Delikatessenkette. Einige Blättchen dieses Krauts um die in weißem, leicht erwärmtem Balsamico für 36 Stunden eingelegten Möhrenstifte gewickelt: Das ist der Schlager der Saison. Neulich bei einem italienischen Delikatessenimbiss in Mitte, nah der Charité, der Ärztenachwuchs auf der Straße und im Lokal. Sagt ein junger Mann mit Trillerpfeife: „Also Rucola, das frisst doch jeder Prolet.“ Und keckert dazu ein Lächeln, das sie für ihn einnehmen soll. Sie hält sich neutral, eine junge Frau, auf dem sportlichen Busen ein Stethoskop tragend: „Als Crème ist Bärlauch doch das Beste.

Man möchte auf der Stelle nicht weiter lauschen, vor allem nicht wissen, was beide wohl vor zehn Jahren gesagt hätten, damals, als Alfred Biolek in seiner Kochshow dieses mühselig zu pflückende Kaninchenfutter zur Ingredienz in allen Salaten erklärte.

Und unseretwegen soll dies auch alles so sein: Um der Gier der Avantgardeseligkeit, dem Ehrgeiz, Trends zu setzen, der oder die Erste zu sein, die oder der den Geheimtipp auf das Vertraulichste weiterwispert, um diesem Trieb Futter zu geben, wird wohl eines Tages gemähtes Gras gesotten, püriert und mit nepalesischem Schmand, leicht gewürzt mit hawaiianischem Schwarzsalz, angereichert auf den Speisekarten stehen.

Wer das Geld hat, soll es ausgeben – und wer viel hat, möge nicht geizen. Denn das hieße, die neue deutsche Lust am Konsum wenige Monate vor der Mehrwertsteuererhöhung – man gönnt sich ja sonst überhaupt nix, reut die Vergangenheit und bangt lustvoll um die Zukunft – zu unterschätzen. Die Frage bliebe einzig, ob das Gras aus ökologischer Mähung oder banaler Wohnsiedlungssitzrasenmäherproduktion stammt. Und ob es mit Blümchen angereichert sein darf. Wenn ja, ließe sich mit etwas Geschick leicht ein Dialog der Gräser um die Wachtelbrüstchen komponieren.

Warum auch nicht? „Dialog der Früchte“ hieß ein trivialer Obstsalat in den Achtzigern – warum nicht einer der bodennahen Nutzpflanzen auf Tellern zum Hauptgericht? Brennnesseln gab es doch auch schon als „amuse geule“ und sogar in Suppen, wenngleich, als Differenz zu Erinnerungen an die kargen Fuffziger, moralisch aufgewertet: Das Kraut, durch das niemand mit kurzen Hosen oder im Mini laufen möchte, kam zu sich selbst, als das erste deutschsprachige Rezeptbuch vorschlug, es zu Kalbsspitzen zu reichen, leicht in 60 Grad mildem Olivenöl gewendet, im Falle der Beilage zu einem Fleischteil noch vermischt mit ungeschältem, aber gedämpftem Streuobst. Das isst sich delikat und nennt sich im Übrigen „Slow Food“.

Aber die Claudi, die Kneipenchefin, kam vorgestern aus einer der entspannteren Gegenden der Stadt zurück, viel Geld war es ihr wert, im Restaurant mal so richtig einen auf dicke Hose zu machen. Und sagte: „Dit mit Bärlauch ist ja schön und jut. Aber hätten die das alles so zerkochen müssen?“ Und erwog, ihre Wahrheit auszuprobieren: „Det sieht bestimmt klasse aus zum Paar Wiener.“ Im Rohzustand. Und dann darf es gegessen werden: ganz langsam.