: Das Geheimnis der Mettwurst
Zwei Nudisten verschwinden am Nacktstrand. Ein mysteriöser Fall aus dem Jahr 1983
An das Verschwinden des Ex-Meisterschwimmers Gerd Schott im Nacktbadeteich der Leinemasch an einem strahlenden Julisonntag des Jahres 1983 erinnere ich mich, als sei es gestern gewesen. Ich sah am Ufer Schotts athletische Gestalt zwischen hängenden Bäuchen und Gemächten gleichsam leuchten wie eine harte Mettwurst zwischen Erbspüree. Ich sah, wie er die Muskeln lockerte und Luft in die Lungen pumpte, ich hörte sie pfeifend entweichen, sah das Federn in den Knien, das Spannen der Schenkel und schon tauchte Schott unter den bewundernden Blicken des Publikums mit elegantem Schwung in das glitzernde Nass ein. Ich sah auch noch, wie er auftauchte und mächtige Bugwellen vor sich her schiebend dem gegenüberliegenden Ufer entgegenkraulte. Doch dort kam Schott niemals an.
Der Ex-Meisterschwimmer war der dritte Abgang der Badesaison, sein Verschwinden sorgte für erhebliches Aufsehen. Man suchte im Schilf, senkte meterlange Stangen in den Uferschlamm, ein Taucherbataillon durchleuchtete das trübe Karpfenreich. Man suchte drei Tage lang. Dann gab man den bekannten Nudisten verloren. Das Bäderamt sprach von einem schmerzlichen, statistisch aber immer noch tolerablen Verlust und verbat sich alle Forderungen nach einer Sperrung der Ricklinger Kiesteiche, die regelmäßig kamen wie der Sommer und regelmäßig auf die Strömungsverhältnisse rekurrierten, deren Gefährlichkeit nun selbst die Kön-nerschaft eines Schott hatte Tribut zollen müssen.
Dabei blieb es, bis am folgenden Dienstag ein gewisser Herr Lebert den Verlust seiner Gattin Hilde zu Protokoll gab. Hilde Lebert, eine erfahrene Triathletin, habe sich am Sonntag trotz kühler Temperaturen zum Schwimmen abgemeldet und sei seitdem wie vom Erdboden verschluckt. Als eine Suchmeldung samt Foto in der Hannoverschen Allgemeinen erschien, meinten Spaziergänger, man habe die brünette Dame an der neben dem Nacktbadesee gelegenen Unten-mit-Kiesgrube auf dem Ast einer weit über die Wasserfläche ragenden Blutbuche wippen sehen, von wo aus sie sich mit einem tadellosen Auerbachsalto in die Tiefe gestürzt hätte. Das Wiederauftauchen der Triathletin indes mochte niemand beschwören. Weitere Recherchen in der Umgebung förderten eine Sporttasche, Sandalen und einen Trainingsanzug zu Tage, Utensilien, die Herr Lebert eindeutig als seiner Gattin zugehörig identifizierte. Der Magistrat ließ die Teiche sperren und gedachte der beiden Vermissten mit einer Trauerfeier, an der die Bevölkerung großen Anteil nahm.
Doch zwei Monate später brodelte die Gerüchteküche. Von erotischen Verwicklungen im Hause Lebert war die Rede, von einer Lebensversicherung und bizarren wie kostspieligen Hobbys des Gatten. Im Falle Schott ging es um Unterschlagungen in Millionenhöhe, die der Ex-Meisterschwimmer als Geschäftsführer eines überregional agierenden Spanplattenherstellers getätigt haben sollte. Als ein Boulevardblatt dann Indizien ausbreitete, die einen Zusammenhang zwischen den beiden mysteriösen Abgängen nicht ausschlossen, begann die Staatsanwaltschaft zu ermitteln und verhaftete Lebert unter Mordverdacht. Gleichzeitig prüften Geologen der Technischen Universität die Möglichkeit, ob es einem versierten Schwimmsportler wie Schott habe gelingen können, durch den unterirdischen Zufluss der Ricklinger Kiesgruben bis in die Leine zu tauchen, um sich unter Vortäuschung eines tödlichen Badeunfalls außer Reichweite der Steuerbehörden zu bringen. Man klassifizierte das Unterfangen als theoretisch möglich, aber praktisch undurchführbar. Die Nachforschungen wurden eingestellt. Zumal nach dem ersten heftigen Herbststurm vom Grunde des Sees der Körper einer brünetten Frau emporstieg, die modrig wie nasses Brot auf dem Wasser trieb. Die Gerichtsmedizin konstatierte Tod durch Ertrinken. Spuren der Gewaltanwendung waren angesichts des Verwesungsgrades nicht mehr nachweisbar. Lebert kam frei, und die Geschichte geriet in Vergessenheit.
Mir fiel sie wieder ein, als ich neulich am Pool einer kapverdischen Hotelanlage lag und einen athletischen Mittfünfziger ausmachte, der zwischen hängenden Bäuchen und Brüsten gleichsam leuchtete wie eine harte Mettwurst zwischen Erbspüree. Ich sah, wie der Mann die Muskeln lockerte und Luft in die Lungen pumpte, ich hörte sie pfeifend entweichen, sah das Federn in den Knien, das Spannen der Schenkel und schon flog er unter den bewundernden Blicken des Publikums mit elegantem Schwung dem glitzernden Nass entgegen. Ich sah auch noch, wie er auftauchte und mächtige Bugwellen vor sich her schiebend dem gegenüberliegenden Beckenrand entgegenkraulte. Diesmal schaffte es Schott und fiel einem Pärchen in die Arme, dessen weiblichen Teil ich schon einmal auf einem Foto unter einer Suchmeldung der Hannoverschen Allgemeinen gesehen hatte. Ich trat hinzu und bat Schott um ein Autogramm. Das Trio lächelte maliziös, dann überreichte man mir eine Visitenkarte: „Tosch + Trebél – Undertakers + Disposition of Refuse, Praia, Kap Verde, Rue St. Martin 9“. Ich wusste, dass es besser war, sofort die Koffer zu packen.
MICHAEL QUASTHOFF