: Das Erbe der SED-Diktatur
Geschichtspolitik und Enthüllungshistorie: Mitglieder der Enquetekommission reflektieren in einem Sammelband Formen, Deformationen und auch Chancen der Aufarbeitung jüngerer deutscher Geschichte ■ Von Edgar Wolfrum
Die verblichene DDR wird von vielen seziert. Forschungsinstitute wurden gegründet, der Bundestag bildete eine Enquetekommission, ständig flimmern Rückblicke und Diskussionsrunden über unsere Mattscheiben. Mit dem Geschichtsbewußtsein der Deutschen wäre also alles in bester Ordnung? Nichts ist in Ordnung.
Geschichte und Politik vermischen sich immer. Aber selten wurde so deutlich, daß die Auseinandersetzung um Vergangenheit von politischen Zielen bestimmt wird wie nach dem Kollaps der SED-Diktatur. Seither geht es oft nicht um vorurteilsfreies Verständnis für das Vergangene, sondern im Vordergrund steht die Dreieinigkeit von Macht, Diskreditierung und Diffamierung. Welche Stasi- Akte liefert die beste Munition im tagespolitischen Kampf, fragt sich die Enthüllungshistorie. Vergangenheit wird politisiert und instrumentalisiert; es wird Geschichtspolitik betrieben.
Zum Glück gibt es Publikationen, die auf Aufklärung setzen, auf kritische Analyse und Emanzipation. Worin liegt die Bedeutung von Selbstreflexion und Aufarbeitung der Vergangenheit für die demokratische politische Kultur in Deutschland, lautet die Kernfrage des Sammelbandes, den Bernd Faulenbach, Markus Meckel und Hermann Weber herausgegeben haben. Die AutorInnen kommen fast durchweg aus dem linksliberalen Spektrum und waren Mitglieder der Enquetekommission „Geschichte und Folgen der SED-Diktatur in Deutschland“. Sie haben das Minderheitenvotum mitverfaßt, das im Anhang des Buches abgedruckt ist.
Der Bogen der sechzehn Beiträge spannt sich um drei große Themen: die individuellen und strafrechtlichen Nachwirkungen der DDR, die Diskussion über die Deutschland- und Ostpolitik, die SED-Diktatur als Herausforderung für Politik, Bildung und Wissenschaft. Nur eine Minderheit der Deutschen hat eine zweite Diktaturerfahrung. Während die einen mit leuchtenden Augen auf die Erfolgsstory ihres Weststaates verweisen, empfinden sich die verunsicherten anderen oft als Teil einer gescheiterten Geschichte. Diese Asymmetrie droht die deutsche Teilung zu perpetuieren. Unter der Oberfläche brodeln psychosoziale und Identitätsprobleme. Und wer weiterdenkt, stößt auf Fragen, die der Sammelband nicht aufzuwerfen wagt: Wie wirkt sich der obrigkeitsstaatliche Charakter des SED-Regimes auf die über Nacht zu Demokraten avancierten Menschen aus, welche autoritären Erblasten werden mitgeschleppt?
Angelika Barbe, die in der DDR in oppositionellen Friedenskreisen mitgearbeitet hat, diskutiert die krude Schlußstrichdebatte, in der fast ausschließlich von den Opfern Entgegenkommen erwartet wird. Wer aber gehört eigentlich zu den Opfern, wer zu den Tätern? Da gibt es, in vielschichtigen Abstufungen, materiell und ideell Geschädigte; die Wiedergutmachung, so Johannes L. Kuppe, zeugt von skandalösen Disproportionen: „Wo zwanzigmal soviel Geld für die Entschädigung von enteignetem Vermögen wie für die von Haftopfern und Ausbildungsbenachteiligten vorgesehen ist, wird auch dort Gerechtigkeit verweigert, wo sie erkennbar bezahlbar wäre.“
Es wird noch lange darüber gestritten werden, ob die Entspannungspolitik das Leben der DDR verlängert oder verkürzt hat. Der Bayernkurier diffamierte die Entspannungs-SPD als „Partei des Ostens“ und bejubelte später den Milliardenkredit an die DDR, den F.J. Strauß einfädelte. Als 1969 Willy Brandt in seiner Regierungserklärung sagte, er verstehe sich als „Kanzler nicht eines besiegten, sondern befreiten Deutschlands“, da zeigten viele Finger auf den angeblich vaterlandslosen Gesellen. Hartmut Soell skizziert, was mit „Wandel durch Annäherung“ gemeint war, vergißt aber bei all der Freude über den Erfolg der Ostpolitik darauf hinzuweisen, daß sich Teile der SPD Ende der 80er Jahre mit der normativen Distanz zur SED ein wenig schwertaten.
Daß die Deutschen im 20. Jahrhundert zwei Diktaturen in ihrer Geschichte haben, verleitet geradezu zu einem Vergleich. Aber ist der legitim? Exkulpiert man nicht die braune Diktatur, indem die rote danebengestellt wird? Vergleichen heißt nicht Gleichsetzen, sondern die Frage nach den Unterschieden stellen. In beiden Diktaturen gab es systematische Verletzungen von Menschen- und Bürgerrechten. Aber nur der Nationalsozialismus war hausgemacht, die SED-Diktatur verdankt ihre Existenz der sowjetischen Hegemonialpolitik. Anders als das Dritte Reich stand, so Jürgen Kocka, die DDR auch in den Traditionen des Internationalismus, der Arbeiterbewegung, des Sozialismus und der Aufklärung, so sehr sie diese Traditionen verbog, pervertierte, zerstörte. Vor allem aber: Die DDR führte keinen Vernichtungskrieg, und in ihr gab es keine staatlich gelenkten Massenermordungen. Konstitutiv für das deutsche Geschichtsbewußtsein in Ost und West bleibt die NS-Zeit.
„Was bedeutet Aufarbeitung der Vergangenheit?“ fragte Theodor W. Adorno vor mehr als dreißig Jahren angesichts einer bundesdeutschen Schlußstrich-Einmütigkeit gegenüber dem NS, die eine verquere und scheinheilige politische Moral gebar. Die schonungslose Reflexion, die er forderte, gilt auch heute mit Blick auf die DDR-Vergangenheit. Der Duktus einer moralischen Sühneleistung behindert dabei ebenso eine kritische Aufarbeitung wie eine Politik, die die Geschichte bewußt instrumentalisiert. Wieviel Konfrontation und wieviel Integration braucht eine Gesellschaft? – auch das muß gefragt werden. Der Sammelband gibt dazu Antworten, regt aber auch zum Widerspruch an. Gut so.
Bernd Faulenbach, Markus Meckel, Hermann Weber (Hg.): „Die Partei hatte immer recht – Aufarbeitung von Geschichte und Folgen der SED-Diktatur“. Klartext, Essen 1994, 294 S., 19,80 DM.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen