: Das Ende der Vorgeschichte
Während Kapital und Eliten die Embryonenforschung vorantreiben, diskutieren Politiker nur mit „Bioethikern“. Dabei stellt sich hier radikal die Frage nach der Volkssouveränität
„Von Cäsar lernen heißt forschen lernen“. So überschrieb kürzlich Hubert Markl, der Präsident der Max-Planck-Gesellschaft, ein forsches Pamphlet, in dem er mehr Freiheit für die Embryonen verbrauchende Forschung forderte. Er mokierte sich über diejenigen, die mit Menschenwürde und Menschenbild argumentierten; sie sähen nicht, dass es kein verbindliches Menschenbild mehr gebe, sondern dass die Gesellschaft jeweils aushandeln müsse, was sie denn unter „dem Menschen“ verstehen wolle. Bei diesem Handel allerdings hätten die Forscher ein privilegiertes Wort mitzureden. Forschungsfreiheit sei schließlich „unverzichtbarer Teil unserer Menschenwürde“, ja mehr noch: Die Freiheit zur „Entwicklung neuer Erfindungen“ sei sogar die „Voraussetzung dafür, dass Kultur und Staat zu existieren vermögen“. Mensch sein, so schrieb der oberste Repräsentant der deutschen Naturwissenschaftler, heiße den Rubikon überschreiten.
Von Cäsar lernen heißt forschen lernen, oder vielmehr: Mensch zu sein im vollen Sinne des Wortes. „Denn der Mensch“, meint Markl, „ist ein Wesen, das seine Grenzen überschreiten muss, um ganz Mensch zu sein.“ Nun: Cäsar, so will es eine wenig bekannte Überlieferung, fühlte als genialer Politiker und Heerführer, dass die Mehrzahl seiner Offiziere emotionale Sperren hatte, den Fluss zu überschreiten, denn das hieß: totaler Sieg oder totale Vernichtung. „Man soll die Götter nicht versuchen“, murrten die mäßig Gläubigen unter den Militärs. Cäsar ließ in seinem Lager am Rubikon deshalb ein Dekret verkünden, das die Überschreitung des Flusses unter strenge Strafe stellte.
Am selben Tage ordnete er die Befestigung des diesseitigen Rubikonufers an und ernannte eine Expertenkommission, die die Tragfähigkeit des Ufergrundes für Pfeiler jeder Art erforschen sollte. Niemand hatte etwas gegen derlei Grundlagenforschung; auch ließ er größere Mengen Bauholz herbeischaffen – für einen Damm, um neuartige Wassermühlen zu betreiben. Eine Innovation, sagte er, die mit neuen Formen der Agrikultur die Ernährung Italiens auf Dauer sicherstelle. In einem besonderen Zelt schließlich ließ Cäsar Modelle von Brücken und Flößen bauen, die einen blitzartigen, unbemerkten und massenhaften Übergang von Soldaten ermöglichten. Die Ingenieure leisteten, im Modell natürlich, Erstaunliches. „Sie leben doch nur“, sagte Cäsar dem Journalisten Cicero, „ihre ureigene Menschenwürde aus, denn der Mensch muss forschen, um ganz Mensch zu sein.“ Er zögerte und fügte hinzu: „Forschen und spielen.“
Nun, wir wissen, wie die Geschichte weiterging. Eines schönen Tages wurde aus der Grundlagenforschung Tat, und Cäsar erlöste auf effektive Weise die kränkelnde und wohl auch dekadent gewordene Republik. Nach seinem Gesetz. Von Cäsar lernen heißt vor allem: siegen lernen.
Was am Dienstag in Washington im Abgeordnetenhaus beschlossen wurde, erinnert von weitem an diese bislang nur Experten der Cäsarenforschung bekannte Variante der Rubikonüberschreitung. Das Klonen von Menschen, also die Herstellung von Duplikaten, wurde kategorisch untersagt, schließlich steht das allgemein geteilte, wenngleich behäbige Menschenbild der Menschheit sowieso dagegen. Das Herstellen von geklonten Embryonen zum Gewinnen von Organersatz wird streng unter Strafe gestellt. Das klingt gut, ist aber wenig mehr als raschelndes Papier; denn der Weg von der wandlungsfähigen Stammzelle zum Leber-, Hirn-, Knochengewebe, das der Reparatur dienen könnte, ist noch völlig unerforscht, und niemand weiß, ob er überhaupt gangbar ist.
Das Entscheidende an dem mächtig ethisch klingenden Beschluss ist, dass in seinem Schatten die Forschung zur Verwandlung embryonaler Stammzellen in verwendbares (und also verkaufbares) Gewebe demnächst genehmigt und staatlich gefördert werden wird – und das ohne Kontrolle des Wirklichkeitsgehalts der Versprechen, ohne wissenschaftliche Reflexion der Folgen, weder für die Würde des Embryos noch für die Gesellschaft, die wir so bauen würden. „Den wissenschaftlichen Forschritt auf eine Weise fördern, die das menschliche Leben respektiert“, nennt der Präsident am Ufer des Potomac das. Der Beschluss der Abgeordneten liefert lediglich die Ausführungsbestimmungen für das Herrscherwort, bringt nur ein wenig Rationalität in die Eroberung des unbekannten Terrains. Denn ohne Wissen über die funktionale Ausdifferenzierung embryonaler Stammzellen, ob geklont oder nicht, ist die Herstellung von immunsystemverträglichen Ersatzteilen ohnehin nicht denkbar. Der Beschluss von Washington ist die Stimulierung einer rationelleren Forschungsstrategie zur Erreichung dieses Ziels. Sollte es dereinst gelingen, aus Embryozellen Herz- und Nierengewebe zu züchten, wird der Übergang zur massenhaften Herstellung von geklonten Bioprothesen blitzartig vonstatten gehen – die kränkelnde Menschheit des dekadenten Nordens wird sie herbeiflehen; nicht der Verbrauch von ein paar hunderttausend Zellbündeln bereitet den Schritt über den Rubikon vor, sondern das gewinnträchtige Versprechen, den Menschen die Angst vor allem zu nehmen, was lange als normales Menschenschicksal galt – Gebrechen, Hässlichkeit, Unterschied, Tod.
Cäsar – und diese Geschichte ist verbürgt – gab einer greisen Leibwache, die ihn bat, aus dem Leben scheiden zu dürfen, die Antwort: „Du denkst also, du lebest noch?“ Die Definitionsmacht über das, was das „Wesen des Menschen“ ist, lag über weite Strecken der Geschichte in den Händen weniger. Hubert Markl hat vor einigen Jahren angesichts der Zerstörung der Natur und des Artentods tief gerührt von der unsäglichen Trauer geschrieben, die ihn darüber befiel, und doch realistisch die grünen Ideen einer „Rettung“ der Natur stoisch verabschiedet. Nichts von der zerstörten „Natürlichkeit“ sei wiederherzustellen, von nun an sei die Welt nur noch als ein Park vorzustellen, dessen Architektur „unsere“ Aufgabe sei.
Es stimmt: Das Ende der alten Natur ist auch das Ende der Vorgeschichte „des Menschen“. Die scholastischen Debatten des neuen Berufsstandes der Bioethiker, die Kioto-Protokolle der Politik verstellen den Blick darauf, dass Schadstoffe, Gesundheit und das „Wesen des Menschen“ keine biologischen oder technischen Gegebenheiten sind, die man nachträglich regeln kann. Die Beschlüsse am Ufer des Potomac, die nun eilfertig zum neuen Standard werden, sind unterkomplex. Sie verkennen, dass es nicht um einen Ausgleich zwischen der Förderung des von Kapital und Eliten getriebenen Fortschritts und dem Respekt vor Embryonen geht, sondern um das, was mit Demokratie gemeint war: Volkssouveränität.
Die abgestandene Kulturkritik und das Klappern der ethischen Regelungsbehörden sind nur die Vorspiele zu einem Klassenkampf, der langfristig, enttäuschungsreich und vielleicht blutig werden wird. Die Frage der Demokratie – wessen Erde ist die Erde, wessen Mensch ist der Mensch? – stellt sich in neuer, furchtbarer Radikalität – am Ende der Vorgeschichte.
MATHIAS GREFFRATH
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen