Das Ende der Ära des Mannes

Nach 13 Jahren gibt Jörg Mannes das Ballett der Staatsoper Hannover in die Hände von Marco Goecke. Der feiert mit dem dreiteiligen Abend „Beginning“ einen furiosen Einstand

Verzerrter Ausdruck von Ängsten: Marco Goeckes Choreografie „Thin skin“ Foto: Fotos (2): Andreas J. Etter

Von Jens Fischer

„Beginning“ heißt der Abend, mit dem das von Marco Goecke reformierte Staatsballett Hannover in seine erste Saison startet – Neuproduktionen aber bietet er nicht. Mit älteren, bereits weltweit aufgeführten Werken will der Choreograf den Kosmos seiner Tanzästhetik erst mal andeuten und damit die Basis definieren, von der aus er in den kommenden Jahren seine Eigenkreationen entwickeln möchte.

Denn politisch und ästhetisch zeitgenössische Positionierungen der globalisierten Bewegungskunst sind abseits des Festivals „Tanztheater International“ und der „Oster-Tanz-Tage“ Mangelware im Kulturangebot der Landeshauptstadt. Es gibt mit Landerer & Company nur ein freies Profiensemble vor Ort, das in der Eisfabrik residiert, wo weitere Künstler grenzverletzend mit Tanz, Performance und bildender Kunst experimentieren.

In der Staatsoper regierte 13 Jahre lang Jörg Mannes als Meister des edel designten Handlungsballetts und sammelte vor allem Possierlichkeitspunkte mit Choreografien wie „Sissi“, „Dornröschen“, „Schneewittchen“, „Nussknacker“, „Marilyn“, „Ein Sommernachtstraum“, „Wahlverwandtschaften“, „Was ihr wollt“ oder „Alice im Wunderland“.

Nachfolger Goecke, der von 2005 bis 2018 Hauschoreograf des Stuttgarter Balletts war, weckt die Hoffnung, dass mit seinem Dienstantritt die Tanzsprachen der Gegenwart in größerer Vielfalt kontinuierlich Einzug halten ins kulturtempelige Opernhaus.

Mehdi Walerskis „Prélude“, 2014 vom Ballet BC in Vancouver uraufgeführt, eröffnet das dreiteilige „Beginning“. Aber keine zarte Plänkelei weht über die Bühne, sondern eine opulente Erstbegegnung mit der 26-köpfigen Compagnie ist zu erleben. Zwischen sich verlierenden Pianoklängen und rauherzig violinierten Klanglustbarkeiten der Komponistin Lea Auerbach sucht es in Zeitlupe nach klassischen Posen, probiert zeitgenössische Schritt­exegese des Ballettvokabulars und erkundet Vertrauen im Fallenlassen – Aufgefangenwerden garantiert.

Bei aufschwingend pianierten Tonkaskaden wird schon mal ein Solo platziert, auch ein sehnsüchtiges Pas de deux der Liebe drängt ins Rampenlicht. Zunehmend konstituieren sich die Tänzer in einem organischen Bewegungsfluss als Gruppe, schreiten auch mal als bedrohliche Menschenmauer gegen aus der Reihe tanzende Kollegen oder vereinnahmen diese als wuselige Masse.

Und zeigen dabei die Kräfte körperlicher Kommunikation, analysieren die Dynamik zwischen Mensch und Masse Mensch. Aus dem Nichts injizierte Energieimpulse überführen die Ordnung der Choreografie immer mal wieder ins Chaos. Besonders beeindruckt Walers­kis Choreografie, wenn Körperbilder in einem hin und her schwingenden Taumel in kühlem Weißlicht aus dem Bühnendunkel seziert werden. Ein optisch betörendes Versprechen.

Gefolgt von „Kosmos“: Die Choreografie hat Andonis Foniadakis 2014 für Les Ballets Jazz de Montréal kreiert – im rasenden Puls moderner Zeiten, zu einer hektisch-perkussiven Partitur, in nebulös blauer Bühnenleere. Das Ensemble scheint ordentlich vorgeglüht zu haben und spaßwillig im Partymodus zu sein. Tosend in Aufruhr.

Mit frenetischen Gesten hetzten die Tänzer ins Szenenbild, absolvieren powerwilde Soli. Spielen sinnlich, energisch, temporeich mit akademischen und zeitgenössischen Mustern des körperlichen Ausdrucks. Müssen sich dabei aber ständig mit der Präsenz ihrer Kollegen auf der Bühne auseinandersetzen und finden in der aufgeregten Stimmung eher zufällig zu Paaren zusammen. Schleudern einander dann fidel herum, feiern waghalsige Hebefiguren und elektrisieren sich gegenseitig zu wohl erotisch gemeinter Akrobatik. Wie ein Rudel junger Großstadtwölfe. Urbanes Leben als Zeitraffer-Tanz.

Bezogen auf den Stücktitel soll wohl auch das Durcheinander kollidierender Teilchen nach dem Urknall assoziiert werden. Bis krisseliges Rauschen, Schnee analoger Fernsehbilder, auf die Körper projiziert wird, die sich peu à peu beruhigen und irrlichternd durch den Raum treiben. Optisch ist das erneut betörend.

Analysiert die Dynamik zwischen Mensch und Masse Mensch: Mehdi Walerskis „Prélude“

Schließlich Marco Goeckes „Thin skin“, 2015 in Den Haag vom Nederlands Dans Theater uraufgeführt. Erneut: blaues Licht, leerer Raum. Alle Konzentration gilt den Tanzkörpern in ihren hautengen, mit Tattoos verzierten Trikots. Die Choreografie erinnert an die geschmeidige Eleganz Walerskis, weil Goecke als Ausgangspunkt immer wieder auf klassische Haltungen Bezug nimmt.

Gleichzeitig knüpft er im Modus „schneller Vorlauf“ an Foniadakis Tanz-Rasanz an, spitzt das Vokabular aber im Stakkato noch zu, setzt auf ruckartig delirierende Roboter-Motorik, verstrickt die Arme in Turbulenzen, als strebten sie fort. Feiert dazu die Muskelspiele der puren Physis.

Die äußerste Präzision des streng konzipierten Formalismus dieser alptraumhaften Aufführung entwickelt einen eisig kristallinen Sog, der durch Musik mit Gefühlen durchdrungen wird. Goeckes hypernervöses Vokabular passt wunderbar als Illustration zur schnarrenden Gesangsemphase, dem heiser aggressiven Timbre, den gellenden Crescendi und suggestiv streunenden Lyrics der eingespielten Patti-Smith-Songs, die ebenso verletzlich wirken wie die nervös-fiebrigen Bewegungsfolgen.

Im Zusammenklang kann die Performance als verzerrter Ausdruck von Ängsten gelesen werden. Erst in der letzten Aufführungsminute kommt sie durchaus pathetisch zur Ruhe, wenn ein Tänzerkopf in den Schoß einer Tänzerin zum Liegen kommt und der Abend mit schwerem Atmen ins verlöschende Licht hinfortgeblendet wird.

Goeckes Arbeit ist der Höhepunkt der eindringlichen Tanztrilogie. Ein radikaler Bruch mit der Ära Mannes. Der Lust auf mehr macht. Auf viel mehr. Mit diesem famosem Ensemble könnte Hannover Tanzhauptstadt Norddeutschlands werden.

„Beginning“: So 13. 10., 16 Uhr, Hannover, Opernhaus. Nächste Termine: 15. +19. 10., 1. +10. + 22. 11.