Das Dorf und ein Ex-taz-Geschäftsfüher: Den Heiner kennen alle
„Es kommt darauf an, dass man etwas macht“ hört man überall in Strodehne. Ein Besuch in der Havelgemeinde in Brandenburg.
Um die 40 Leute haben sich eingefunden im Festsaal des Gasthofs „Stadt Berlin“ in Strodehne. Zum Jubiläum, „Zwanzig Jahre Havelland-Brücke“, wird ein TV-Film aus den 90er-Jahren gezeigt. Er dokumentiert den Widerstand der Strodehner gegen die Einstellung des Fährbetriebs über die Havel 1997. Man kommentiert die Kampfeslust von damals, freut sich über das jugendliche Erscheinungsbild der Mitstreiter, die man alle kennt, über die damalige Haartracht, bevorzugt ein lockerer, fransiger Stufenschnitt.
Der Gasthof „Stadt Berlin“, ein Betrieb in dritter Generation, ist ein Glücksfall: Einkehrmöglichkeit Treffpunkt, Dorfmittelpunkt. Nur wenige Dörfer in Brandenburg können noch damit punkten. Fred Heinrich macht den Schankbetrieb in der Traditionswirtsstube mit Kachelofen, Holzverkleidung, alten Schwarz-weiß-Fotos vom Dorf. Seine 87-jährige Mutter kocht. Auf dem Speiseplan steht heute Eisbein mit Kohl und Kartoffeln. „Das machen wir zweimal im Herbst, zweimal im Frühjahr“, sagt der zugewandte Wirt. „Alle 40 Plätze sind ausgebucht.“
Strodehne mit seinen 263 Einwohnern liegt im Kreis Havelland an der Grenze zu Sachsen-Anhalt. Ein fast durchgängig restauriertes Backsteinensemble. Sicherlich landete auch Theodor Fontane auf seinen Streifzügen durch die Mark Brandenburg irgendwann hier. Der taz-Geschäftsführer Karl-Heinz Ruch jedenfalls hat hier seit 20 Jahren seinen Landsitz. Alle kennen Heiner, so wird er hier genannt.
Der Ort ist umgeben von Wasser mit Rastplatz am Ufer der Havel und einer Badestelle. Direkt angrenzend ist das Naturschutzgebiet Gülper See, ein Vogelparadies, in dem Graugänse überwintern, Seeadler und Rotmilane kreisen. Der Naturpark Westhavelland wurde 2014 zum ersten Sternenpark Deutschlands erklärt. Die Region ist wenig besiedelt und die geringe künstliche Beleuchtung lässt die Sterne strahlen.
Herbstputz in Strodehne
An diesem regnerischen Novemberwochenende ist Herbstputz in Strodehne. Die Bürger treffen sich auf dem Dorfplatz, um gemeinsam „Laub und was sonst so anfällt aufzuräumen. Das fördert den Austausch“, sagt Elke Melkus, die sich trotz schlechtem Wetter für den Dorfeinsatz rüstet. Land-Blues im grauen November? „Es kommt darauf an, dass man was macht“, sagt Elke Melkus, die früher eine Kunst-Eventagentur führte.
Eine Aussage, die hier öfters fällt. Ihr Ehemann, der Künstler Michael Ilg, bietet Kräuterwanderungen an, organisiert zusammen mit dem örtlichen Fischer Bootstouren auf der Havel, auch Paddeltouren mit Gesang.
Das Paar lebt seit 1999 hier. „Botanische Botschaft“ heißt ihr Backsteinhaus. Sie kommen – wie die meisten Zugezogenen – aus Berlin. Strodehne hat sich immer mehr zu ihrem Lebensmittelpunkt entwickelt. In ihrem geschmackvoll renovierten Haus mit Naturgarten bieten sie zwei Ferienwohnungen an.
In Strodehne scheint die Integration zu klappen. Es gibt ein reges Dorfleben. Skatrunden in der „Stadt Berlin“, einen Billardsalon, Sportverein, die freiwillige Feuerwehr und einen Heimatverein, der im Festsaal des Gasthofes hin und wieder Filme zeigt, wie die Diskussion um den Fährbetrieb. Ein Bilderbuchort? „Auf jeden Fall kommen viele junge Familien aus Berlin und dem Umland hier her, um Häuser zu suchen“, sagte Elke Melkus. „Aber das ist inzwischen aussichtslos.“
„Es gibt bei unseren Aktivitäten viele Schnittmengen zwischen Zugezogenen und Eingesessenen, sagt die Künstlerin Gabriele Konsor, die gleich neben der „Botanischen Botschaft“ wohnt. Auch sie kommt aus Berlin und seit 20 Jahren hierher. „Die Leute in Strodehne sind aufgeschlossen“, sagt sie. „Ein Ort am Wasser eben, den Austausch mit Fremden gewohnt.“ Gabriele Konsor muss es wissen. Sie ist inzwischen Ortsvorsteherin zusammen mit zwei Alteingesessenen. Ihr Ziel: den Strodehner Geist pflegen und erhalten.
Zum Beispiel mit dem Kunstprojekt „landmade.Kulturversorgungsraum“: „Wenn zeitgenössische Kunst ein Brandenburger Dorf ins Zentrum des Geschehens stellt, trifft sie auf eine heterogene Gesellschaft von Bewohnern, die mehrheitlich wenig Bezug zu aktuellen Kunstdiskursen hat“, sagt Konsor. Um nicht wie ein Ufo in abgehobener Sphäre zu agieren, müsse man sich neue Formate einfallen lassen: In Strodehne haben Künstler*innen und Dorfbewohner*innen gemeinsam die Kittelschürze neu entdeckt, neu designt.
In der Projektbeschreibung steht dazu: „Ihre Gegner verachten sie als Merkmal eines rückständigen (Haus-)Frauenbildes, ihre Befürworter finden sie praktisch, erfreuen sich an ihren bunten Mustern und ihrer heimlichen Sinnlichkeit oder schätzen sie, weil sie ähnlich einer Uniform ihre TrägerInnen gleich stellt“. Der Öffentlichkeit präsentierte sich das „Strodisign“ in einer Schau auf dem Dorfplatz, bei der die Kittelträgerinnen als Models auftraten.
Kunst und Basenfasten
Der Strodehner Geist lebt, das Projekt geht weiter, grenzüberschreitend nach Schottland: „Kittelmuster treffen auf Schottenkaro, weiblich auf männlich, Arbeitskleid auf repräsentative Tracht“, erklärt Gabriele Konsor das Projekt. „Die traditionellsten Kleidungsstücke der zwei europäischen Regionen, Kittelschürze und Kilt, werden zu einem Kittel-Kilt-Partnerlook vereint.“
Nicht nur der Geist der Kunst, auch Körperkultur wird in Strodehne gepflegt: „Ob Fasten, gesunde Ernährung oder (Wieder-)Entdeckung der Natur, ich begleite Sie gern in meinen Seminaren oder bei Wanderungen. Oder möchten Sie einfach mal entspannen, Ruhe finden und Urlaub machen?“, schreibt Marion Werner auf ihrer Website. Marion Werner lebt seit 18 Jahren hier. Ihr Angebot reicht vom Basen-Fasten bis Sterne gucken.
„Es kommt darauf an, dass man was macht“, sagt auch Rocco Buchta, Flussexperte des Nabu und Leiter des Havel-Projekts Renaturierung. Seine Vision: eine frei fließende Havel ohne künstliches Korsett. In mühevollen Gesprächen mit Flächeneigentümern und Gemeinden hat er es geschafft, dass 90 Kilometer der Unteren Havel renaturiert werden. Dass der Fluss wieder mäandert und Brutgebiet für Vögel und Laichplatz für Fische ist. Dafür bekam er im August den Brandenburger Naturschutzpreis.
„Ich bin an und auf der Havel aufgewachsen“, erzählt er. „In meiner Kindheit sind wir im Frühling an den überschwemmten Wiesen mit den hohen Weiden herumgestrolcht. Daher kommt meine Liebe zur Havellandschaft. Als die Schifffahrt nach der Wende zusammenbrach, hatten wir neue Optionen. Der Verzicht auf die weitere Nutzung der Havel als Bundeswasserstraße war eine wichtige Weichenstellung.“ Zusammen mit dem Fischer Wolfgang Schröder – „mein Freund“, sagt Buchta – organisiert er Bootstouren durch die verzweigte Flusslandschaft, wo Wasser- und Watvögel, Fischotter und Biber grüßen.
Den Fischer findet man, wenn man bis ans Ende des Sackgassendorfes Strohdehne läuft, etwa zwei Kilometer durch die jetzt braunen Felder bis zu einer schilfbewachsenen Auenlandschaft. „Man muss noch mehr machen“, sagt Wolfgang Schröder. Und fischt – groß und breitschultrig – Wollhandkrabben aus dem blauen Plastikbottich. Schröder ist das Flaggschiff von Strodehne: Er führt einen alteingesessenen Betrieb in vierter Generation und macht einen aussterbenden Job mit viel Arbeit und wenig Freizeit. „Und nicht dem Verdienst, den man sich vorstellt.“
Der Tourismus spielt für Wolfgang Schröder daher eine große Rolle. „Die Leute essen hier und kaufen Fisch, ich mache Bootstouren auf der Havel und Erlebnisfischen. Und ich mache viel mit dem Nabu zusammen, zur Renaturierung. Deshalb kommen häufig Gruppen zu Bootsfahrten her.“ Schröder kauft fast keinen Fisch dazu, sondern versucht mit seinem Fang Produkte herzustellen, die vermarktungsfähig sind. „Die Kundschaft wächst, weil sie wieder mehr regionale Produkte schätzt. Das hat auch etwas mit dem Zuzug aus Berlin zu tun.“
Der Koch, der Fischer, der Kaufmann
Zu den Zugezogenen aus Berlin gehört auch Karl-Heinz Ruch: „Ich kenne den Heiner schon seit mehr als 24 Jahren“, sagt Wolfgang Schröder. „Der hat bei mir Eier gekauft. So sind wir in Kontakt gekommen, auch weil unsere Kinder gleich alt sind. Wir haben schon eine Menge zusammen gemacht. Ich habe ihm auch die Fensterläden am Haus gezimmert. Er wollte ja unbedingt die tazze darauf haben.“
Am nächsten Tag will er mit Karl-Heinz Ruch und einem Koch aus Rathenow zu einer Teigwarenmanufaktur fahren. Zusammen wollen sie Krabben-Tortellini produzieren und vermarkten – der Koch, der Fischer und der Kaufmann. Eine vielversprechendes Gespann.
„Die Entscheidung mit dem Haus in Strodehne habe ich nie bereut“, sagt Karl-Heinz Ruch. „Ich war nie mit meiner Familie in Mallorca, allenfalls haben wir einen taz-Kollegen, etwa Werner Raith in Italien, besucht. Ich habe das Reisen nie vermisst.“
Jetzt will er ganz nach Strodehne ziehen. Und wie man sieht nicht ohne Geschäftsidee. Es kommt eben darauf an, dass man was macht.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Umgang mit der AfD
Sollen wir AfD-Stimmen im Blatt wiedergeben?
Pistorius lässt Scholz den Vortritt
Der beschädigte Kandidat
Böllerverbot für Mensch und Tier
Verbände gegen KrachZischBumm
Haftbefehl gegen Netanjahu
Begründeter Verdacht für Kriegsverbrechen
Utøya-Attentäter vor Gericht
Breivik beantragt Entlassung
Social-Media-Verbot für Jugendliche
Generation Gammelhirn