Online-Gemeinschaft: Wer hat Putzschicht im digitalen Raum?
Soziale Strukturen funktionieren nur mit persönlichem Einsatz. Das gilt für Kneipen in besetzten Häusern genauso wie im Netz.
D ass wir durchs Fenster einstiegen, befremdete beim ersten Mal noch ein wenig. Die schummrige Beleuchtung der Erdgeschosswohnung aber, die hier zur Kneipe umfunktioniert worden war, fand schnell ungeteilte Zustimmung. Die preisgünstigen Getränke sowieso. Das Haus war besetzt.
Im für die Nachbarschaft offenen Lokal bullerte winters ein riesiger Kachelofen, die Boxen kreischten zu jeder Jahreszeit beide Arten Musik: Crust Punk und Grindcore. Oder manchmal ABBA. Je nachdem, wer den Ausschank innehatte. Anders als an den meisten anderen Orten im hippen Stadtzentrum, konnten wir hier ohne Geld und Konsumdruck ungestört rumsitzen und den unsterblichen Geist der Boheme beschwören. Nur wenn Plenum war, verdrückten wir uns, damit wir nicht doch noch zu Tresendiensten überredet würden.
Na, das sind uns die Liebsten. Nie aktiv sein wollen, immer nur Gast. Das funktioniert schon, solange das Geld locker sitzt und der Wirt deiner Stampe kein Nazi ist. Für das eine wie das andere gibt es jedoch keine Garantie. Soziale Infrastruktur ist halt ein fragiles Gebilde, das besser in solidarischer Gemeinschaft betrieben wird, statt es den Zwängen und Zufällen des Markts zu überlassen. Egal ob der Tresen mit realer Zapfanlage daherkommt oder ein virtuelles Wohnzimmer ist.
Ja, sorry, es führt kein Weg vorbei an selbst organisierter, unkommerzieller Vernetzung. Auch wenn es richtig beobachtet ist, dass die Welt sich nicht einfach über ethischen Konsum und sonstiges individuelles Wohlverhalten zum Besseren verändert: Ganz ohne persönlichen Einsatz für die Utopie funktioniert es eben auch nicht.
Die Verachtung der eigenen Nutzer*innen
Im digitalen Raum heißt das zunächst, sich der verwendeten Werkzeuge bewusster zu werden. Überhaupt erst einmal zu lernen, wie sie funktionieren und wer sie zu welchen Zwecken sonst noch so benutzt. So versucht zum Beispiel noch jedes nächste große Netz-Ding Risikokapital einzuwerben, und das mit dem Versprechen permanenter Expansion. Die funktioniert aber nur über die ganz prinzipielle Verachtung der eigenen Nutzer*innen. Ich bin wirklich kein Fan, mag aber Grindcore deutlich lieber als die immer gleich sterile Kaufhausbeschallung, die da so aufspielt.
Der besondere Wert eines funktionierenden sozialen Netzwerks besteht doch nicht darin, dass wir dort nur bereits Bekanntes wiederfinden. Für Neues und Anderes aber müssen wir schon manchmal durch Fenster steigen und, besser noch, gelegentlich eine Putzschicht übernehmen. Gemeinsam mit anderen. Wenn es auch kein richtiges im falschen Leben geben mag, am Erträglichen wenigstens sollten wir uns bisweilen versuchen. Und das kann nur abseits der menschenfeindlichen Konsumhölle des Überwachungskapitalismus geschehen.
Solche Lokale in Erdgeschosswohnungen gibt es übrigens immer noch. Und wenn man die Lautstärke ein wenig runterdreht … Nee, Quatsch, mein Tresen heut, und wir wissen alle, was das heißt: „The Winner Takes It All“!
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