■ Da vertraut man mal auf einen Siebeck-Tip, und dann das: Andouillette in Paris
„Für zwei Personen also“, nickt der Oberkellner und führt sie zu einem Tisch in der Peripherie des Restaurants. Viktoria K. (23) und Felix L. (25) essen heute abend im „Chez Georges“ an der Porte de Maillot, das Wolfram Siebeck in seinem Gourmetführer empfiehlt. „Chez Georges“ konnte bei Siebeck zwar nur einen Stern für das Ambiente, aber deren drei für die Küche erringen. „Das wird ein richtiges Schlemmerfest!“ hatte sich Viktoria gefreut. Aber der Oberkellner im dunklen Zweireiher verfrachtet die Touristen gleich in die hinterste Ecke, wo man den Pianisten nur noch hören kann, und fragt, ob sie die englische Übersetzung der Karte haben möchten. Nein, danken die frankophile Restaurateurin und der Philosophiestudent voll polyglottem Stolz, obwohl sie sich der vokabularischen Extravaganz in der Weltspeisehauptstadt bewußt sind.
Bei gedämpftem Klavierspiel tasten ihre Blicke die großformatige Karte ab, dann steht auch schon der Oberkellner wieder am Tisch: „S'il vous plait?“ Viktoria bestellt das gleiche wie Felix: eine gebratene Andouillette an Senfsauce, ein solides Stück Fleisch, wie sich beide sicher sind. Dazu Pommes frites und einen 1995er Chateau Le Cone, den „Wein des Monats September“.
Draußen regnet es stürmisch, der uniformierte Jungportier muß Autos einparken und Schirme halten. Der Sommelier schenkt fleißig nach, und der arrogante Oberkellner scheint aufs Rumstehen und Schikanieren von Gästen spezialisiert zu sein. „Warum grinst der immer so blöd hier rüber?“ fragt Felix leicht verunsichert. „Nun ja, aus der Küche riecht's nach Fisch“, mutmaßt Viktoria, „ob wir etwa...?“ Felix erbleicht deutlich in seinem schwarzen Rollkragenpullover: „Du meinst, Andouillettes sind Meeresfrüchte, und wir haben Rotwein dazu bestellt?“ Welche Blamage! Das wäre Sartre nie passiert. Beide rauchen erst mal eine.
Luciano, der italienische Kellner mit der schwarzen Brille, kommt an den Tisch, und das Blatt wendet sich zugunsten der Nachwuchs-Feinschmecker: Der Koch habe die Andouillettes versaut und müsse nun neue zubereiten. Für den ersten Hunger spendiert das Haus zwei Scheiben fetter Ochsenterrine mit extrem sauren Mixed Pickles. Felix hebt an: „Die französische Küche hat diese deftigen Gerichte kultiviert!“ Doch dabei ahnt er nicht, daß hier das in Aspik erstarrte Menetekel seines kulinarischen Untergangs vor ihm liegt.
Jetzt serviert Luciano die Andouillettes: eindeutig kein Fisch, sondern länglich-runde, leicht gekrümmte, helle, kroßgebratene Fleischstücke: „Bon appetit!“
Gespannt nehmen sie die ersten Bissen. „O Gott“, entfährt es Felix, „was ist das denn?“ Er seziert ungläubig das dampfende Ding auf seinem Teller, kämpft sich mit Pommes-frites-Unterstützung durch das erste Andouillette-Drittel und gibt schweißgebadet auf. Viktoria schafft eine halbe Portion dieses animalischsten Gerichtes der französischen Küche, dessen aasiger Geschmack auch hartgesottenen Fleischfressern die Schuhe auszieht. Luciano ist entsetzt, als er Andouillette Nr. 3 und 4 in den Schweineeimer werfen muß; Felix ist froh über ihren blickgeschützten Tisch, so gibt es nicht viele Zeugen des peinlichen Vorfalls. Und der Pianist begleitet den lukullischen Super-GAU in Moll.
Mit knurrenden Mägen geht's zurück ins Hotel. Viktoria konsultiert das Wörterbuch: „Laut Sachs- Villatte haben wir ,Wurst aus Schweinekaldaunen‘, also frische Gedärme, verspeist. Wie kommen Menschen auf die Idee, sowas zu essen?“ – „Nun ja, um es mit Gottfried Benns Worten zu sagen“, der Existentialist greift zum Telefon und wählt die Nummer des Zimmerservice: „,Das schöne Ochsenfleisch ist futsch, wir müssen die Kaldaunen schlucken!‘“ Christian Kortmann
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