DOKUMENTATION: Europäisch und kosmopolitisch
■ In Sarajevo geht es nicht um einen Krieg zwischen verschiedenen Völkern
Der Krieg in Bosnien-Herzegowina ist bei weitem nicht zu Ende — und er wird ohne eine militärische Intervention der internationalen Gemeinschaft kein Ende finden. Jugoslawien, und hierbei vor allem Bosnien-Herzegowina, ist in nationaler, religiöser, territorialer, politischer und historischer Hinsicht so komplex, daß man in Europa dazu neigt, die Dinge zu vereinfachen und den gegenwärtigen Krieg als Resultat des Hasses zwischen verschiedenen Völkern abzutun. Und so scheint alles ganz einfach: Die Gelben können die Roten nicht riechen, die Roten mögen die Blauen nicht, die Blauen wollten noch nie mit den Gelben zusammenleben, und so weiter und so fort.
Wie aber ist es denn möglich, daß in Ex-Jugoslawien, und vor allem in Bosnien-Herzegowina, Hunderttausende von gemischten Ehepaaren leben? Unter welcher nationalen Rubrik, bitte sehr, sollen die überaus zahlreichen Menschen eingeordnet werden, die aus diesen Mischehen hervorgegangen sind?
Zu Beginn des Krieges, als die systematische und barbarische Zerstörung Sarajevos einsetzte, zählte diese europäische und kosmopolitische Stadt 650.000 Einwohner. Ihr kosmopolitischer Charakter ist Ausdruck einer langen Tradition von Toleranz, von gemeinsamem Leben, von Verschachtelung verschiedener Kulturen, Zivilisationen, Religionen und Nationalitäten. Serben, Kroaten, Muslime, Juden (Sepharden zum großen Teil), Österreicher, Tschechen, Roma, Gläubige und Ungläubige leben seit Jahrhunderten nicht nur Seite an Seite, sondern durchmischt, und bereichern sich gegenseitig geistig, kulturell und gesellschaftlich. Moscheen, Kirchen und Synagogen stehen eng nebeneinander. So hat sich eine Atmosphäre der Toleranz und des gegenseitigen Verständnisses herausgebildet, die Sarajevo zu einer Stadt mit universaler Bestimmung gemacht hat, zu einer multinationalen, multikonfessionellen, multikulturellen Stadt.
Seit schon über zwei Monaten wird diese Stadt nun belagert, terrorisiert, bombardiert, geplündert und ausgehungert. Mehr als 60 Prozent ihrer Gebäude sind zerstört. Nicht nur Häuser und Infrastrukturen, sondern auch Kulturdenkmäler und religiöse Stätten. Die ersten Bombardements richteten sich gegen den öffentlichen Nahverkehr. Weshalb? Um diese Bevölkerung mit kosmopolitischer Bestimmung daran zu hindern, sich von einem Ort zum andern zu bewegen und sich auszutauschen. Um die Seele einer Stadt zu ersticken, die sich in tiefem Widerspruch zu den faschistoiden Nationalismen befindet, die in Serbien, in Kroatien, in Montenegro und in Bosnien-Herzegowina das politische Leben dominieren.
So ist Sarajevo Opfer einer Barbarei, die wesentlich mit diesen Nationalismen verbunden ist. Gegenüber den Bewegungen, die auf einer Ideologie von Blut und Boden basieren, auf einer Politik der „Bereinigung“ und der Unmöglichkeit des Zusammenlebens verschiedener Nationen und Religionen (oder gar Rassen), steht Sarajevo für die Sehnsucht nach Demokratie, nach Respektierung des menschlichen Lebens in seiner Unterschiedlichkeit. Diese Stadt ist für die faschistoiden Nationalismen, seien sie kroatisch, serbisch oder muslimisch, eine unverschämte Herausforderung. Deshalb der Rekurs auf Methoden des Nationalsozialismus: Zerstörung, Massaker, Deportationen.
Wenn man in den gängigen Kategorien reden will, könnte man also sagen, daß Serben in Sarajevo Kroaten, Muslime und Juden umzingeln, angreifen, bombardieren und töten. Bloß, sie töten auch Serben. Und es gibt andererseits Kroaten, die Serben vor Horden schützen, die aus Serbien kommen; es gibt Serben und Muslime, die sich gegenseitig schützen; es gibt in Zvornik einen Serben, der öffentlich für das Leben seiner muslimischen Nachbarn gebürgt hat und diese so vor der Ermordung rettete. Und was soll man im übrigen von den Auseinandersetzungen zwischen Kroaten und Muslimen halten, die verschwiegen werden, sich aber bald vervielfachen könnten?
Das Problem ist also auf der politischen Ebene angesiedelt. Selbstverständlich stellt es sich vor einem nationalen Hintergrund.
In der Periode des Übergangs von einem Einparteiensystem zu einer pluralistischen Gesellschaft hat sich die ultranationalistische Politik durchgesetzt. Dies umso leichter, als Jugoslawien bereits eine Wirtschaftskrise durchmachte, die sich immer weiter zuspitzte, als ein Rechtsstaat praktisch nicht mehr existierte, als es an demokratischer Tradition und demokratischen Institutionen mangelte. So haben in Bosnien-Herzegowina, ganz wie in Serbien und Kroatien, Parteien die Macht übernommen, die sich ethnisch definieren. Aus dem Parlament wurde eine Art „Ethno-Park“. Ex- Kommunisten, Nationalisten, Gangster, sogenannte Intellektuelle gruppieren sich neu und werden „Serben“, „Kroaten“ oder „Muslime“.
Die nationalen Parteien der Serben und Kroaten in Bosnien-Herzegowina beziehen ihre Stärke aus dem Privileg, daß sie in Serbien und Kroatien ein Vaterland in Reserve haben. So sind sie auf die ultranationalistische Linie dieser Republiken eingeschwenkt, die nach dem Territorium Bosnien-Herzegowinas trachten. Ein Anspruch, der auf den Programmen der populistischen und totalitären Regime Serbiens (sekundiert von Montenegro) und Kroatiens immer ganz oben stand und gleichzeitig eine Art Kompensation für die nationale und territoriale Niederlage bietet, die beide Seiten im Krieg in Kroatien einstecken mußten (für die Kroaten bedeutete er den Verlust eines Drittels des nationalen Territoriums; für die Serben den Verlust Tausender Männer und die internationale Nichtanerkennung militärisch erzwungener Gebietsgewinne). Der Krieg zwischen den ultranationalistischen und totalitären Regime Serbiens (immer treu von Montenegro gefolgt) und Kroatiens geht also auf dem Rücken und auf Kosten von Bosien-Herzegowina weiter. Jene Regime wollen diese Republik, die inzwischen Vollmitglied der UNO geworden ist, um jeden Preis in Stücke schlagen und aufteilen.
Der Krieg, der zur Zeit in Bosnien-Herzegowina wütet, ist also letztlich die Konsequenz der Nationalismen, die in Kroatien und Serbien herrschen (im Fall Serbiens weit aggressiver und destruktiver, weil von der Ex-Bundesarmee unterstützt) und die Folge der grundsätzlichen Unvereinbarkeit von drei ethnischen Parteien, die in Bosnien-Herzegowina an der Macht sind. Und dies im Maße, wie sie sich auf dieselbe nationalistische Ideologie berufen. Und dieser Krieg kann im Sinn der UNO-Begrifflichkeit als Aggression gegen einen jüngst international anerkannten Staat bezeichnet werden. Das letzte Aufbegehren von Sarajevo (das ja nur einige hundert Kilometer vom „vereinten“ Europa entfernt liegt) fand im April stand: Zehntausende von Bürgern demonstrierten gegen den Krieg, gegen die Nationalismen und für den Frieden. Damals wurde in die Menge geschossen. Dieser Mordanschlag auf eine Stadt ist gleichzeitig eine Ohrfeige und eine Herausforderung für Europa, für seine Zivilisation, für all seine fundamentalen Werte, auf die es sich beruft. 1914 haben Feuerstöße in Sarajevo, so scheint es, Europa und die Welt in Brand gesteckt. 1992 sind es die Geschosse schwerer Artillerie, Granaten und Bomben, die Sarajevo anzünden.
Sollte Europa die Lektionen der Geschichte vergessen haben? Ist es nicht dabei, seine Werte und seinen Geist zu leugnen, wenn es sich darauf beschränkt, Zeuge der Schlächterei zu sein, die sich unter seinen Augen, vor seiner Türe abspielt? Wenn man passiv bleibt, läuft man Gefahr, den Zeitpunkt, an dem man vom Zeugen zum Komplizen wird, nicht wahrzunehmen. Svebor A. Dizdarevic
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen