DIE WAHRHEIT: Bei Anruf Günther
Als Telefonjoker bei "Wer wird Millionär?" (2)
Was bisher geschah: Es ist Dienstagabend. Seit 16 Uhr halte ich mich bereit, um bei "Wer wird Millionär?" als Telefonjoker für "Politik und Geschichte" die junge Studentin Jessica aus Hildesheim zu unterstützen. Seit Stunden warte ich vor dem Telefon auf den Anruf von Günther Jauch. Einen ersten Anruf habe ich bereits erhalten, am Apparat war eine Mitarbeiterin der Quizshow, die mir berichtete, dass Jessica es tatsächlich auf den Stuhl geschafft habe, die erste Sendung für Freitag aber bereits beendet sei. Jessica müsse nun noch mal antreten für die Folge am Montag, die gleich im Anschluss aufgezeichnet werde. Ich solle mich bitte bis 22.15 Uhr bereithalten.
20.45 Uhr. Das Telefon klingelt wieder und wieder und wieder. Dreimal lasse ich es - getreu den "Instruktionen Telefonjoker", die ich vor zwei Wochen von RTL erhalten habe - klingeln. Dann hebe ich den Hörer ab. "Günther Jauch, guten Abend", sagt Günther Jauch. Was wird jetzt kommen?, frage ich mich, denn ich weiß, dass Jauch Kandidaten und Telefonjoker gern zu irritieren versucht, wenn sie aus einem für ihn reizvollen Umfeld stammen. Und die taz, für die ich arbeite, wie Jauch durch Jessica sicher erfahren hat, reizt ihn ganz gewiss. Ich hatte mich allerdings darauf eingestellt: taz - das bedeutet für jemanden wie Jauch, nicht viel Geld zu verdienen, also der völlige Gegensatz zu seinem Quiz, in dem es bis zu einer Million Euro zu gewinnen gibt.
"Herr Ringel, arbeiten sie als fester Mitarbeiter oder als Freier für die taz?", eröffnet Jauch das Geplänkel. Ich wusste es! "Ich bin Redakteur", kontere ich ruhig, jedenfalls tu ich vor mir selbst und dem Publikum so, in Wahrheit quält mich das Adrenalin, das inzwischen von der Nebenniere übers Hirn mitten ins Herz geschossen ist. Mein Blutdruck hat sich mindestens auf 200 hochkatapultiert. "Ja, Herr Ringel, wir sitzen hier, und Jessica ist bei der 16.000-Euro-Frage, aber sagen Sie mal", fährt Jauch genüsslich fort, "was macht die taz denn gerade mit ihren Auslandskorrespondenten?" Dieser verdammte Hund!, denke ich und versuche gleichzeitig kühlen Kopf zu bewahren. Jetzt kommt er mir mit dieser hochkomplizierten hausinternen Geschichte, dass die Pauschalverträge für die meisten Auslandskorrespondenten gekündigt wurden, um ein neues, nach Ansicht der Auslandsredaktion faireres System der Bezahlung zu installieren, woraus manchen Korrespondenten jedoch finanzielle Nachteile entstehen. Was soll ich dazu sagen?!
"Ich bin ja nur der Wahrheit-Redakteur", versuche ich Zeit zu gewinnen. "Die Wahrheit?", fragt Jauch erwartungsgemäß nach, und ich gewinne kurzzeitig die Oberhand: "Die Wahrheit ist die letzte Seite der taz", erkläre ich, wohl wissend, dass der Begriff "Wahrheit" die Kenntnislosen immer schwer ins Grübeln bringt. "Ach, dann geht sie das gar nichts an?", kriegt Jauch für sich die Kurve. "Doch, doch, sie schreiben ja auch für mich, und ich unterstütze die Korrespondenten natürlich", sage ich und ärgere ich mich im selben Moment - weil es so glatt klingt wie bei einem Politiker. "Na, wenn das die taz nicht schafft, wer soll das Problem dann lösen", stichelt Jauch triumphierend. Ich kann ihn ja nicht sehen, offenbar verzieht er aber das Gesicht oder schneidet Fratzen, denn im Hintergrund jauchzt das Studiopublikum, als ich sage: "Ich weiß nicht, ob eine Quizshow das richtige Forum ist für solch eine hochkomplexe Angelegenheit."
Inzwischen rutscht Jessica unruhig auf dem Stuhl hin und her. Sie hat sich zwar tapfer geschlagen, aber hat das Gefühl, sich blamiert zu haben. Und jetzt unterhält sich Jauch nicht einmal wie üblich mit ihr als Kandidatin über ihre Pläne und Wünsche, sondern lieber mit dem taz- Mann über diese komischen Korrespondenten.
"Sie fühlen sich also der Wahrheit verpflichtet?", fragt Jauch mich und will wieder zurück zum Spiel kommen. Ich sage nur kurz: "Ja." - "Dann … sind … Sie … jetzt …", zieht er lustvoll die Worte, weil er glaubt, er hat sein Ziel, mich verunsichert zu haben, erreicht, "… ich bin bereit!", vervollständige ich den Satz, und Jauch befiehlt mit strengem Tonfall: "Dann, Jessica, 30 Sekunden, ab jetzt!" Jessica zieht hörbar die Luft ein und piepst mit Ihrer hellen Stimme etwas, das sich anhört wie: "In der Schlacht bei Waterloo trugen welche Verbündeten entscheidend zur Niederlage Napoleons bei? - a) die Sachsen, b) die Preußen, c) die Bayern, d) die Habsburger." Wie aus der Kanone geschossen, antworte ich: "Die Preußen!" - "Hundertprozentig?" - "Hundertprozentig!", belle ich bestätigend. Die Zeit läuft noch immer. 20 Sekunden. Stille im Studio. 15 Sekunden. Keine Nachfragen. 10 Sekunden. Kein Muckser. 5 Sekunden. Ich atme laut aus und mir entfährt ein "Jaaaaa!". 0 Sekunden. Ich werde aus der Leitung geworfen und bekomme nichts mehr mit. Nichts, niemand, nirgends, nie …
20.55 Uhr. Noch fünf Minuten später stehe ich mit dem Hörer in der Hand da und versuche, mich zu sammeln, während meine Gedanken explodieren. Ein Glück, dass die Preußen und nicht die Inder Thema waren. Beim Warten auf Günther hatte ich mir eine fiktive Millionenfrage zu Gandhis Vornamen ausgedacht, aber vor Aufregung den Namen falsch erinnert. Gandhi heißt nicht "Mahondis", sondern "Mohandas". Das wäre ein schöner Reinfall gewesen. Jetzt fallen mir plötzlich all die Namen ein: Waterloo - Napoleon - Blücher - Wellington: "Ich wollte, es wäre Nacht oder die Preußen kämen." Das berühmte Zitat, das den Zweifel des späteren Siegers zeigt. Das hätte ich noch in der Zeit unterbringen können, um meine Vollbildung zu beweisen. Oder meine Vollmeise! Denn das hätte Jessica nur unnötig irritiert. Preußen - das war doch auch die richtige Antwort, oder? Hat Jessica sie eigentlich übernommen? Wie ging es weiter, wie ist es ihr ergangen? Meine Gedanken wandern weiter in die Vergangenheit. Was wäre, wenn es die taz schon vor rund 200 Jahren gegeben hätte? Und ein Auslandskorrespondent hätte von der Schlacht in Brabant berichtet? Wie hätte dann wohl die Schlagzeile auf der Seite eins gelautet? "Napoleon bei Waterloo geblüchert!"
21.20 Uhr. Jessica ist am Apparat und bedankt sich überschwänglich für meine Hilfe. Sie ist froh. Sie hat 16.000 Euro gewonnen, ist dann aber ausgestiegen. Demnächst werde man sich kennenlernen, denn ein Party werde sie sicher feiern.
21.30 Uhr. Ich öffne eine Flasche und ziehe das Bier in einem Schluck weg. Das waren sechs verflucht harte Stunden.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Pelicot-Prozess und Rape Culture
Der Vergewaltiger sind wir
++ Nachrichten zum Umsturz in Syrien ++
Baerbock warnt „Assads Folterknechte“
Trendvokabel 2024
Gelebte Demutkratie
Mord an UnitedHealthcare-CEO
Gewalt erzeugt Gewalt
100 Jahre Verkehrsampeln
Wider das gängelnde Rot
Bundestagswahlkampf der Berliner Grünen
Vorwürfe gegen Parlamentarier