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DIE WAHRHEITVERLIEBT IN EINE RIESIN DES NORDIC WALKING

Mit einiger Verspätung hörte Rita von jenem spektakulären Ereignis.

M it einiger Verspätung hörte Rita von jenem spektakulären Ereignis. Umso heftiger wühlte es sie auf. Es war ihr entgangen, mutmaßlich weil sie zwei Tage lang überwiegend vom Netz abgeschnitten war. Das bedeutet in ihrem Fall auch, von Presse und Fernsehen. Kaum zu glauben, aber der Umstand entspringt keiner dichterischen Wahrheit.

Weshalb Ritas Zugang in die weltweite Wirrnis fragil geworden war? Auf dem Bildschirm ihres Rechners kamen unentwegt die Begriffe „Fehlerkonsole“ und „Problemsignatur“ zum Vorschein. Wunderliche Wörter, die weit oben auf der aktuellen Liste meiner Lieblingsvokabeln stehen, was Rita, so ich darauf anspielte, in charmantes Grollen versetzte.

Kennen gelernt hatten wir uns via easy-divorce.de, einen „Komplett-Service für Trennung, Scheidung und Neubeginn“. Wie es dazu kam, wäre eine eigene Geschichte, die ich womöglich bald erzählen werde. Genauso wie von dem vermeintlich seltsamen, letztens logischen Sachverhalt, dass dieses Unternehmen, das die Site betreibt, Mitglied des „Netzwerks Erfolgsfaktor Familie“ ist, selbiges ins Leben gerufen vom Familienministerium.

Das galaktische Phänomen vor vier Wochen hatte Rita also versäumt, nämlich die von hier aus zu beobachtende Passage der Venus vor der Sonne. Venus! Der Planet, nein, die Planetin, deren Name bekanntlich der Göttin der Liebe, der Schönheit und des Verlangens gleicht und die obendrein Morgenstern und Abendstern darstellt. Venus wird erst am 11. Dezember 2117 wieder am Zentralgestirn vorbeiziehen – notieren Sie es vorsorglich im Kalender. Diese Konstellation ergab sich im gesamten 20. Jahrhundert nie!

Das Faktum riss Rita darnieder, bildlich gesprochen, denn wir lagen am Strand auf Amrum. Sie meinte, jetzt finde sie es keineswegs verwunderlich, dass die zwei Weltkriege ausbrachen, während ich erstens entgegenhielt: „Von Deutschland aus!“, und sich mir zweitens der Gedanke aufdrängte, endlich in Jean Pauls Fragment „Biographische Belustigungen unter der Gehirnschale einer Riesin“ zu blättern; habe ich mir seit über einem Vierteljahrhundert, seit der ersten Liebschaft, vorgenommen, des Titels wegen, klar. Der nächste Geistesblitz rief unerbittlich eine der zentralen Fragen der Gegenwart auf: Kann man sich in eine Frau verlieben, die dem Nordic Walking frönt?

Rita arbeitet als Moderatorin und Mediatorin. Aus ihrem Freundeskreis hatte sie jemanden erwähnt, der als Koordinator Geld verdient, außerdem einen Realisator neben einem Sensibilisator oder Stabilisator, was weiß ich, es kam auch ein Investor oder Integrator vor.

Sobald sich Berufsbezeichnungen dieser Art häufen, brüllt etwas in mir „Tor! Tor! Tor!“, sowohl in sportlicher wie närrischer Anmutung, abwechselnd mit dem Antrieb, als Terminator aufzutreten. In Sekunden der Demut allerdings erkenne ich mich als einen Simplifikator, einen, der sehr komplex, ja kompliziert blufft. Dies paradoxe System werde ich als Autor in der übernächsten Erzählung ausleuchten, womöglich.

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