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DIE PREDIGTKRITIKDer Kaiser am Breitscheidplatz

■ Heute aus evangelischer Sicht

Zwischen allen profanen Vergnügungen des unteren Kudamms steht sie wie der Fels in der Brandung — die Kaiser-Wilhelm-Gedächtnis-Kirche. Heute darf sie ihrem Namen mal alle Ehre machen, denn es geht um den Kaiser: Nicht um Kaiser Wilhelm, ebensowenig um dessen Bart, sondern darum, was des Kaisers und was Gottes ist und wem der Christ was zu geben hat. Die Rucksäcke jedenfalls, die sich am Eingang der Kirche stapeln wie im Sommer auf südlichen Bahnhöfen, gehören zu jungen, protestantischen Touristen, die hinten gleich eine ganze Reihe in Beschlag genommen haben. Überhaupt mangelt es nicht an Besuchern und sie singen machtvoll, währenddessen der Superintendent auf die Kanzel schreitet, die konstruktiv eine gewisse Ähnlichkeit mit einer Schießbude auf dem Jahrmarkt aufweist. Von oben schaut er auf die Gemeinde herab und rückt erst mal die Verhältnisse wieder gerade: »Sie kennen mich, und ich kenne viele von Ihnen.« Und: »Andere Menschen haben wir bekanntlich nicht.« Das läßt nicht viel Erbauung erwarten, und so begebe ich mich in diese Notwendigkeit, um gleich noch einmal desillusioniert zu werden: »Ich weiß, daß Sie wissen, was Leben ist.« Da hätte ich also gar nicht mehr kommen müssen? — »Die Geschichte kennen Sie ja.« Nämlich die Geschichte, wie Jesus zu den Pharisäern sagt: »Gebt dem Kaiser, was des Kaisers ist, und Gott, was Gottes ist.« Aber vielleicht kennen Sie den Hintergrund nicht: Daß die Pharisäer in heimtückischer Absicht zu Jesus kamen, und er bei einer falschen Antwort sein Leben aufs Spiel gesetzt hätte. Aber er gab die richtige Antwort, und nicht nur er: In der Geschichte — bei den Christenverfolgungen im alten Rom, bei der Gestapo im Dritten Reich — habe sich immer wieder herausgestellt, daß die Menschen in solchen Extremsituationen das Richtige gesagt hätten, ohne es vorher selber zu wissen: Ihnen wurde gegeben, was sie sagen sollten, sagt der Superintendent, der mit dieser Ansicht nicht allein dasteht, denn auch der Historiker Ranke hat dieses Bibelwort als das wichtigste Wort Jesu überhaupt bezeichnet. Sollte das wirklich funktionieren, dann wären die Menschen ja doch nicht nur so mangelhaft, wie es der Superintendent vorher sagte.

Wahre Größe zeigen viele Menschen ebensowenig, wenn es darum geht, Steuern zu zahlen, und was ist nun des Kaisers und was Gottes? — Der Christ, und schon wieder geht es auf eine rasante Tour durch die Menschheitsgeschichte, hat sich nie Illusionen über den wahren Charakter des Staates gemacht, der sich schon auf einer Geldmünze zeige: Da steht drauf, wieviel sie wert ist und der Staat, der sie herausgibt, aber der gibt sich nicht zu erkennen, ob er ein gerechter sei oder eine »Räuberbande« — als den ihn der Kirchenforscher Augustin im Mittelalter bezeichnet hat. Was dennoch nicht zu der Annahme verführen dürfe, bei Christen handele es sich um Anarchisten. Das seien sie nie gewesen, vielmehr gehe es darum, dem Staat seine Grenzen zu zeigen — damals wie heute. Im November 1991 stelle sich das Verhältnis von Staat und Kirche als Gemengelage dar: Der Staat habe sich darum zu kümmern, die gröbsten Ungerechtigkeiten abzuwehren, von denen es genügend gebe. »Wir müssen dadurch«, sagt der Superintendent, durch Asylbewerber und Wohnungsnot, und die Kirche spende da Trost, wo der Staat versagt. »Ja hier«, ruft einer dazwischen, »ich bin obdachlos.« Der Superintendent auf der Kanzel reagiert souverän: Auch so etwas gehöre in die Kirche. Ob das dem Mann geholfen hat? — Immerhin durfte er eine Stunde im warmen Innern der Gedächtnis-Kirche sitzen. Lutz Ehrlich

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