DIE MEDIEN BRAUCHEN PRÜGELKNABEN. TRITTIN MUSS DRAN GLAUBEN: Nachdenken wird bestraft
So sieht also ein „politischer Amoklauf“ (Bild-Zeitung) aus. Ein Minister sagt seine Meinung. Leider die falsche. Und prompt findet er sein Foto auf der Titelseite der Bild-Zeitung wieder. Darunter wird das „Tempolimit-Geschwätz entlarvt“.
Der Artikel liest sich, als wären die Autoren im Osterurlaub in eine Radarfalle gerast und müssten sich nun abreagieren. Jürgen Trittin, heißt es, „nerve die Deutschen mit immer neuen, sich widersprechenden Vorstößen“. Ein Sprecher des Umweltministeriums stellt zwar klar, dass das betreffende Zitat aus dem Zusammenhang gerissen war. Unverändert halte Trittin ein Tempolimit für ein geeignetes Mittel für den Klimaschutz. Bild stört das nicht. Für sie ist dies nur eine weitere „rasante Kehrtwende“, der Minister „doppelzüngig“.
Drei Gründe gibt es für die Schlagzeile. Erstens ist ein Tempolimit allgemein unbeliebt. Zweitens eignet sich Trittin bestens als Prügelknabe, weil er eine Minderheit vertritt. Und drittens ist Ostern nichts los, ein Aufmacher muss aber her. Dies ist eine klassische Konstellation – nicht nur bei Bild und nicht nur zu Ostern.
Doch das Problem sitzt tiefer: Für Politiker wird es immer schwerer, noch klar Stellung zu beziehen. Bei jeder Formulierung müssen sie überlegen, ob ein Satz – aus dem Zusammenhang gerissen – nicht völlig anders gedeutet werden könnte. Komplexe Formulierungen, die ein Problem angemessen beschreiben, motivieren dagegen die Journalisten nur noch mehr, zwischen den Zeilen zu lesen. Je höher im Amt, umso mehr muss ein Politiker seine Sätze kastrieren. Kaum war beispielsweise Friedrich Merz neuer CDU-Fraktionschef, wurden ihm alte und durchaus überlegenswerte Gedanken zur Rentenbesteuerung um die Ohren gehauen, die zuvor niemand zur Kenntnis genommen hatte.
Aber wozu auch diskutieren. Selbst viele Politiker tun ihr Bestes, um Substanz aus der Debatte zu nehmen. Auf Trittins Vorschlag, die Wehrpflicht abzuschaffen, antwortete Verteidigungsminister Rudolf Scharping am Montag schlicht, „es wäre wahrlich sinnvoller, wenn nicht immer wieder irgendjemand unüberlegt daherreden würde“. Als ob nur der Verteidigungsminister über die Bundeswehr reden dürfe und als ob eine Berufsarmee wie in den USA oder Großbritannien abwegig sei.
Keine Streitkultur. Am Ende haben es die Politiker am einfachsten, die nichts ändern wollen, die ihre Absichten so lange wie möglich im Ungefähren halten. Bundeskanzler Gerhard Schröder und die CDU-Bundesvorsitzende Angela Merkel, die beiden Leitfiguren der Volksparteien, sind die besten Beispiele dafür. MATTHIAS URBACH
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen