DGB-Bundeskongress: Harmonisches Familientreffen
Über 600 Seiten Antragswerk sind durchgestimmt und die Einheit beschworen: Am Donnerstag ist der 19. Bundeskongress des Deutschen Gewerkschaftsbundes zu Ende gegangen.
BERLIN taz | "Bruder zur Sonne zur Freiheit" tönt es durch die Halle. Zum Abschluss ihres fünftägigen Bundeskongresses singen am Donnerstag in Berlin die 400 Delegierten und Gäste des Deutschen Gewerkschaftsbund (DGB) Seite an Seite das alte Arbeiterlied. Harmonie und Schulterschluss prägten das "19. Parlament der Arbeit", ganz anders als noch 2006. Damals - die Hartz-Gesetze waren noch nicht lange in Kraft - hatten die Gewerkschaftsdelegierten anwesende Politiker gnadenlos niedergepfiffen, DGB-Vorsitzender Michael Sommer fuhr mit 78,4 Prozent sein schlechtestes Ergebnis ein und Ursula Engelen-Kefer musste in einer dramatischen Kampfabstimmung ihr Amt als Vizechefin des Gewerkschaftsbundes aufgeben.
Dieses Mal stürzte zwar DGB-Bundesvorstandsmitglied Claus Matecki bei den Wahlen ab. Er wurde mit 53,2 Prozent nur knapp im Amt bestätigt. Doch Sommer fuhr stolze 94 Prozent ein. Und nur eine einzelne Trillerpfeife störte die Rede der Bundeskanzlerin zur Eröffnung des Kongresses am Sonntag, als sie sich gegen einen flächendeckenden Mindestlohn positionierte.
Auch Arbeitsministerin Ursula von der Leyen (CDU), die am Mittwochnachmittag ein kurzes Grußwort spricht, kommt glimpflich davon: Statt Buhrufen und Pfeifkonzerten gibt es zurückhaltenden Applaus und nur vereinzelte Rufe im Saal: "Mindestlohn für alle" ertönt es, als von der Leyen zwar Mindestlöhne, aber nur für die Leiharbeitsbranche fordert.
Heinrich Kolb, sozialpolitischer Sprecher der FDP-Fraktion, konnte oder wollte dennoch keine Angriffsfläche bieten. Zur Talkrunde mit Parteienvertreterinnen am Dienstagabend fehlte Kolb zwischen Renate Künast (Grüne), Olaf Scholz (SPD), Karl-Josef Laumann (CDU) und Gregor Gysie (Linke). Kolb verspäte sich, teilt der Moderator unmittelbar vor Beginn der Gesprächsrunde mit. Ein vielstimmiges, herzliches Lachen aus dem Publikum ist die Antwort. Kolb aber bleibt verschwunden. Dafür unterschrieb Renate Künast wenig später einen Antrag auf Mitgliedschaft in der Dienstleistungsgewerkschaft Ver.di.
Antrag über Antrag wird in den fünf Tagen durchgestimmt, über 100 Beschlüsse hat das 19. Parlament der Arbeit gefasst und damit politische Linien und Initiativen für die nächsten vier Jahre festgelegt: Gegen die Laufzeitverlängerung bei Atomkraftwerken, für einen neuen flächendeckenden Mindestlohn von 8,50 Euro und die Fortsetzung der Mindestlohnkampagne, gegen die Kopfpauschale, für die Einführung einer Gemeindewirtschaftssteuer und mehr Verteilungsgerechtigkeit im Steuersystem, gegen die Bundeswehr in Afghanistan, für eine ökologisch und sozial ausgerichtete Industriepolitik sowie die wirkungsvolle Regulierung der Finanzmärkte.
Doch mancher Antrag scheitert: Das Begehren des DGB-Bezirksvorstand Baden-Württemberg nach politischem Streik wird abgeschmettert. Die flächendeckende Einrichtung von Beratungsstellen für Migranten ohne gesicherten Aufenthaltsstatus, die unter anderem schon in Berlin und Hamburg existieren, wird nur als "Material an den Bundesvorstand" weitergeleitet, sprich: verschwindet erstmal in der Schublade.
Längst nicht zu allen Anträgen treten Delegierte aus den acht Einzelgewerkschaften ans Rednerpult. Und noch seltener kommt es zu lautstarkem Widerspruch. Doch als aus dem Initiativantrag "Europa aus der Geiselhaft der Finanzmärkte befreien" die Forderung nach "höheren Löhnen" und "öffentlichen Investitionen" in Deutschland zum Abbau der wirtschaftlichen Ungleichgewichte in der Eurozone gestrichen werden soll, halten Klaus Wiesehügel, Chef der Industriegewerkschaft Bauen Agrar Umwelt (IG BAU) und Ver.di-Vorsitzender Frank Bsirske dagegen: "Es wäre eine peinliche Note", sagt Bsirske, wenn die Forderung rausgenommen würde. Und Wiesehügel schimpft über "katastrophal niedrige Löhne" in Deutschland, die auf Dienstleistungsbetriebe in Südeuropa einen enormen Druck ausübten. "Wir können doch nicht so tun: Exportwirtschaft voran und der Rest muss gucken, wo er bleibt", ruft Wiesehügel in den Saal.
Die Delegierten sehen das genau so. Ein einziges Mal entsprechen die Delegierten nicht dem Willen der Antragsberatungskommission, die die politischen Forderungen aus den Gewerkschaften immer wieder vorstellt und Abstimmungsempfehlungen ausspricht.
Selbst das Verschlankungsprogramm "DGB-Strukturreform" nehmen die Gewerkschafter - aus Mangel an Alternativen, wie einige später sagen - überraschend eindeutig an. Bei allgemein sinkenden Mitgliederzahlen wollen die Einzelgewerkschaften nicht mehr so viel Geld in die DGB-Zentrale nach Berlin überweisen. Also wird der Bundesvorstand ab 2014 von fünf auf vier Personen schrumpfen, und der DGB seinen Solidaritätsfonds künftig aus eigenen Mitteln finanzieren müssen. 3,6 Millionen Euro muss der Dachverband einsparen.
Doch vor allem Delegierte aus Bayern sind damit nicht zufrieden, dass der DGB zudem künftig die Arbeit auf der kommunalen Ebene nur noch von Ehrenamtlichen erledigen lassen will. Ihre Redebeiträge zeigen, wie der stolze Gewerkschaftsbund in den letzten Jahrzehnten Federn gelassen hat. "Auch nach drei Jahren intensiver Suche haben wir bei uns keine Ehrenamtlichen für den DGB-Kreisverband gefunden", erzählt IG-Metall-Mitglied Franz Nuber mit eindrucksvoll gezwirbeltem Bart aus der Region Südost-Oberbayern in breitestem bajurwarischem Dialekt. Andere Delegierte berichten davon, wie sich die Jugend-, Frauen oder Beamtenausschüsse in ihren Regionen dezimiert haben oder wie schwer es war, Delegierte für den Kongress zu finden. "Vor 20 Jahren gab es noch Konkurrenz um die Delegiertenplätze", ruft Werner Rauch von der IG Metall Bayern in den Saal. Trotzdem stimmen am Ende nur wenige gegen die Strukturreform.
Das Parlament der Arbeit bringt neben allem Antragskauderwelsch und bürokratischen Prozedere die Welt in Betrieben, Schulen, Krankenhäusern und Jobcentern ein Stück näher. Immer wieder erzählen Delegierte von sozialen, arbeitsmarkt- und betriebspolitischen Initiativen oder Missständen aus ihren Regionen und Städten in Ost- und Westdeutschland.
Und manchmal liegt der Missstand direkt vor den eigenen Füßen: Buhrufe schallen durch den Saal, als die Delegierte Kerstin Meißner von der Gewerkschaft Nahrung-Genuss-Gaststätten (NGG) sich empört: "Wir tagen in einem Hotel mit aggressiver Gewerkschaftsfeindlichkeit." Das riesige Estrel-Hotel im Berliner Bezirk Neukölln verweigere Mindestlohntarifverträge und zahle seinen Angestellten zum Teil Löhne von 5,50 Euro, erzählt Meißner. "Beim nächsten Bundeskongress: Keine Gewerkschaftsgelder für Gewerkschaftsfeinde" fordert sie die DGB-Spitze auf und weiß den Saal auf ihrer Seite.
Am nächsten Tag sieht alles nicht mehr ganz so schlimm aus. Zwar existiert für die Beschäftigten des Hotels kein Tarifvertrag, doch es wird "ordentlich, nicht unter Tarif" bezahlt, hat Detlef Sommer, NGG-Mitglied und Betriebsratsvorsitzender im Estrel-Hotel, klar gestellt. Sein Namensvetter, der DGB-Chef, kündigt an, alle Dienstleister, mit denen der DGB und seine Einzelgewerkschaften zusammenarbeiten, genau prüfen zu wollen.
Solidarität ist auch kurz danach gefragt: Unter lautem Jubel ziehen 25 Streikende des Betonwerks Westerwelle aus Herford in Nordrhein-Westfalen in die Halle. Auf einem ihrer Transparente fordern sie ein Verbot von Leiharbeit. Seit sechs Wochen streiken sie in Herford für einen Tarifvertrag und einen Betriebsrat. Fristlose Kündigungen für einen Teil der Mitarbeiter war eine der Antwort auf das Begehr nach betrieblicher Mitbestimmung. Der Einsatz von Leiharbeitern, um die Produktion aufrecht zu erhalten, die andere.
Der Chef des Unternehmens, Kai-Uwe Westerwelle, sei mit dem FDP-Außenminister nicht verwandt, erklärt Nadine Schildmann, eine der Arbeiterinnen aus Herford. "Doch ein Anflug von Gier und Größenwahn haben sie beide", stellt die junge Frau fest. Lacher im Saal, zum Abschluss ihrer Rede gibt es Standing Ovations, die Streikdelegation ist gerührt. Dann wird der gewerkschaftliche Klingelbeutel "zur Unterstützung der Kollegen" rumgereicht. Und DGB-Chef Sommer ruft: "Westerwelles aller Art kriegt man in die Knie."
Ob und wie, das könnte der Herbst zeigen. Für die dritte Jahreszeit hofft IG-Metall-Chef Berthold Huber auf eine "erste Zuspitzung" in Sachen Krisenproteste.
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