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DFB-Pokal-Finale mit Arminia BielefeldDie Eroberung des Fantasieraums

Der VfB Stuttgart gewinnt mit 4:2 den DFB-Pokal. Aber der Gegner aus Ostwestfalen hat gezeigt, wie auch den Großen die Stirn gezeigt werden kann.

Solange kein Tor fällt, gibt es Grund für Träume: Noah Sarenren Bazee (Bielefeld) verpasst in der 12. Minute die Führung Foto: Reuters/Bensch

Nun ist dieser Traum vom größten Außenseitererfolg der Pokalgeschichte ausgeträumt. So könnte vielleicht die spärliche Zahl der Neutralen im Berliner Olympiastadion gedacht haben, als Schiedsrichter Christian Dingert das 82. DFB-Pokalfinale abpfiff. Aber weit gefehlt. Dieses Endspiel wird in den Köpfen der Profis, Trainer, Betreuer und vor allem der Fans von Arminia Bielefeld ewig weitergespielt werden.

Kurz vor Mitternacht in den Stadion-Katakomben nahe dem Busparkplatz fing Bielefelds Torhüter Jonas Kersken schon damit an: „Wenn wir am Anfang das 1:0 machen, man weiß nie, wie dann der Spielverlauf ist.“ Er dachte an diese Szene in der 12. Minute, die im kollektiven Vereinsgedächtnis der Arminia einen Ehrenplatz erhalten dürfte. Letztlich etwas glücklich rutschte der Ball da zu Noah Sarenren Bazee durch, und der traf freistehend fünf Meter vor dem Tor die schmale Latte statt das breite Tornetz.

„Ein Hundertprozenter“, wie selbst VfB Stuttgarts Pokalsiegertrainer Sebastian Hoeneß später eingestand. In der Historie von Arminia Bielefeld gibt es einige ikonische Momente des Versagens. Nie jedoch war einer mit einer solch glücksversprechenden Fantasie verknüpft.

Wenn wir am Anfang das 1:0 machen, man weiß nie, wie dann der Spielverlauf ist

Jonas Kersken, Arminia-Torwart

Forsch und offensiv hatte der krasse Außenseiter die Partie eröffnet. Schon in der ersten Minute war Bazee in Tornähe knapp an einem Ball vorbeigerutscht. Aus Bielefelder Sicht war dieses zum Jahrhundertspiel erklärte Finale, das großzügig geschätzte 100.000 Menschen aus Ostwestfalen nach Berlin pilgern ließ, auf eine seltsame Art zugleich inspirierend und ernüchternd.

Ernüchternd, weil nach der Großchance der Arminia die Stuttgarter binnen 13 Minuten vorentscheidende Effizienz demonstrierten. Nick Woltemade (15.), Enzo Millot (22.) und Deniz Undav (28.) profitierten allesamt von Unzulänglichkeiten ihres Gegners. Und auch als Undav in der zweiten Hälfte gar das 4:0 erzielte, lieferte Bielefeld in Person von Luis Oppie einen wesentlichen Beitrag.

Forsch, offensiv aber mit Fehlern

„Zu viele individuelle Fehler“ habe man gemacht, räumte Torhüter Kersken ein. Der Pokalschreck dieser Saison, der vier Bundesligisten schlecht aussehen ließ, konnte in diesem Wettbewerb erstmals nicht kaschieren, dass der Klub eben gerade einmal dem Drittligafußball entwachsen ist.

Doch just als sich dieser desillusionierende Eindruck am Samstagabend verfestigt hatte, sorgten die beiden Bielefelder Treffer in der Schlussphase durch Julian Kania (82.) und den Eigentorschützen Josha Vagnoman (85.) wiederum für Irritationen. „Dann hast du ganz komische Gedanken im Kopf“, berichtete Hoeneß. Stuttgarts Torhüter Alexander Nübel verhinderte in der Nachspielzeit gar einen weiteren Bielefelder Anschlusstreffer.

Kersken, Nübels Kollege auf der anderen Seite, resümierte: „Ich glaube, es war für alle, die aus Bielefeld hier waren oder das verfolgt haben, ein unvergesslicher Tag. Das ist das, was am Ende bleibt.“ Ein Fazit, das vielleicht sogar zu bescheiden ausfällt. Denn Arminia Bielefeld hat in dieser Pokalsaison, einschließlich Finale, für alle kleineren Klubs Fantasieräume eröffnet, wie selbst im immer exzessiver durchkapitalisierten Profifußball den Großen die Stirn geboten werden kann.

Fast ein Vierteljahrhundert ist es her, als mit Union Berlin letztmals ein Drittligist im Endspiel stand. Das hatte am Samstagabend eine durchaus rauschhafte Nachwirkung. Es sei ja das erste große Finale für das Team gewesen, erklärte Jonas Kersken, als er nach dem Lerneffekt dieser Partie gefragt wurde. „Ich hoffe, dass es für uns nicht das letzte ist.“ Und auch sein Trainer Kniat war noch voll auf Pokaldroge: „Was die Fans und ganz Bielefeld hier abgerissen haben, war einmalig.“

Umgekehrt war den Stuttgartern vor allem Erleichterung anzusehen. Atakan Karazor, der vor dieser Saison zum Kapitän ernannt wurde, schien den DFB-Pokal gar nicht mehr hergeben zu wollen, nachdem er ihn im großen Blitzlichtgewitter überreicht bekam. Auch die Mixed Zone betrat er mit der Trophäe. In dieser Spielzeit hatte er sich erstmals zu den seit 2022 in Spanien laufenden Ermittlungen wegen sexueller Nötigung einer Frau geäußert, die er mit einem Freund begangen haben soll, was Karazor abstreitet. Er hob vergangenen November das Vertrauen des Vereins in ihn hervor und erklärte: „Für mich steht der Fußball im Vordergrund.“ In der Pokalnacht von Berlin war das offenkundig der Fall.

Sebastian Hoeneß wies wegen der medial zugewiesenen klaren Favoritenrolle des VfB auf die Fallhöhe hin. „Das Spiel entsprechend zu spielen, ist nicht einfach.“ Die Unzufriedenheit im Stuttgarter Umfeld mit der Bundesligarückrunde, die den Champions-League-Teilnehmer ins Mittelmaß zurückfallen ließ, erhöhte den Druck. In der Anfangsphase war das den Schwaben anzumerken. Zuerst mussten sie das Psychospiel für sich gewinnen, ehe sie mit dem Fußballspielen beginnen konnten. Es hatte schon fast etwas von asiatischer Kampfkunst, wie die Stuttgarter die Angriffskraft des Drittligisten gegen diesen selbst nutzten. Der verdiente Lohn war der vierte DFB-Pokalerfolg in der Vereinsgeschichte. Letztmals war dies übrigens 1997 gegen den Drittligisten Energie Cottbus gelungen.

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