DER SIEG DER OPPOSITION IN TAIWAN KANN CHINA SOGAR NÜTZEN: Demokratische Kriegsbereitschaft
Wer am Samstagabend in Taipeh weilte, für den war das Glück auf seiner Seite. Er durfte eine Feierstunde miterleben, wie sie die Demokratie nur selten den Menschen schenkt. Mann und Frau auf der Straße einte das Gefühl, das eigene Schicksal auch dort bestimmen zu können, wo der Wille des Volkes bisher abgeschmettert wurde: oben an der Spitze eines Staates, der immer nur von Tyrannen regiert wurde. Holländer, chinesische Piraten und Kaiser, japanische Kolonialisten, das diktatorische Regime des chinesischen Nationalistenführers Tschiang Kai-shek und der Kuomintang regierten fünfhundert Jahre lang nacheinander die kleine Insel Taiwan – bis zur demokratischen Öffnung.
In einer solchen Siegesstunde ist das Volk mutiger als seine tüchtigsten Generäle. Schon warnen die Intellektuellen der Insel das Volk vor Provokationen, die auch den mächtigen Verbündeten auf der anderen Seite des Pazifiks vergraulen könnten. Schon versucht der neu gewählte Präsident seinen auftrumpfenden Nationalismus nach innen zu kehren, weil er Angst vor der eigenen Courage hat. Denn man wird auf Taiwan noch spüren: Die Kräfte der Reaktion sind mächtig und längst nicht besiegt.
So unglücklich können die alten Herrscher in Peking über den neuen Gegner auf Taiwan gar nicht sein. Die Kuomintang, einst der Erzfeind im chinesischen Bürgerkrieg der Vierzigerjahre, war schon lange keine Gegenmacht mehr, an denen sich der Nationalismus der Chinesen entzünden konnte. Doch ein mit der Arroganz seines neues Reichtums ausgestattetes Taiwan, das sich im Übermut zum chinesischen Modell stilisiert, muss dem Dritte-Welt-Volk Chinas ein Dorn im Auge sein. Denn: Wer auf dem Festland hat noch nicht die brutalen taiwanesischen Unternehmer erlebt, die jeden chinesischen Arbeiter schonungsloser ausbeuten als jedes andere ausländische Unternehmen? Endlich, werden die Kommunisten im Politbüro sagen, haben wir wieder einen Gegner, der unsere Untertanen zusammenschweißt.
Der Ausgang des Dramas ist ungewiss. Außenpolitisch steht dabei so viel auf dem Spiel, dass die Großmächte die Entwicklungen in Taiwan vermutlich nicht weiter zuspitzen wollen. China und die Vereinigten Staaten haben bislang ihr eigenes Interesse am Frieden im Pazifik, der darauf beruht, dass Taiwans nationales Aufbegehren von beiden Seiten überschaut wird und die Insel nicht als unabhängig anerkannt wird. Doch wie lange wird dieser Frieden halten? Das taiwanesische Volk hat ihm am Wochenende seine demokratische Basis entzogen. Es würde lieber in den Krieg ziehen, als weiter seinen Kopf einzuziehen. GEORG BLUME
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