DER KRANKENSTAND SINKT – WEIL KRANKE BEI DEN ARBEITSLOSEN LANDEN: Körper und Karriere
Der Krankenstand hat einen Tiefstand erreicht, melden die Betriebskrankenkassen. Doch was sagt das aus? Dass die Arbeitsbedingungen besser geworden sind oder die Unfallzahlen sinken? Dass die Leute sich nicht mehr trauen, krank zu Hause zu bleiben, weil sie Angst um ihren Job haben? Dass es früher einfach nur mehr Blaumacher gab? Es gibt noch eine andere Erklärung: Die Erwerbsbevölkerung ist insgesamt gesünder geworden, weil mehr Kranke aussortiert wurden.
Viele Unternehmen haben in den vergangenen Jahren ihre Belegschaften „saniert“ und kranken Mitarbeitern gekündigt. So gesehen, erscheint etwa der oft belächelte hohe Krankenstand im öffentlichen Dienst in einem neuen Licht. Dort werden nämlich kranke Mitarbeiter relativ lange gehalten. Außerdem sind dort vergleichsweise viele Behinderte beschäftigt. Es geht also keineswegs nur um „Blaumacherei“, wenn die Absenz ausgerechnet da besonders hoch ist, wo eine Kündigung nicht so schnell droht.
Während der Krankenstand in der Arbeitswelt sinkt, wächst der Anteil der aus gesundheitlichen Gründen schwer vermittelbaren Arbeitslosen und der erwerbsunfähigen Frührentner. Und bei den Kranken wird längst nicht mehr nur wegen eines kaputten Rückens, sondern zunehmend auch wegen des angeschlagenen Nervenkostüms aussortiert – der Anteil der psychisch und nervlich bedingten Ausfälle unter den Krankschreibungen ist in den vergangenen Jahren stetig gestiegen.
Neben der beruflichen Qualifikation ist die körperliche und seelische Belastbarkeit das entscheidende Merkmal für sozialen Auf- und Abstieg. Deswegen muss diese Belastbarkeit politisch ähnlich behandelt werden wie die Bildung – nämlich unter der Fragestellung, was man tun kann, um die Stabilität des Einzelnen zu schützen und zu fördern. Wo gibt es innerhalb der Arbeitswelt Möglichkeiten der Entlastung? Wo gibt es Übergänge zwischen hohem Druck – etwa in aufreibenden Fertigungsjobs, aber auch in der 60-Stunden-Woche für Führungskräfte – und einer phasenweisen Entlastung? Viele Erwerbslose, so erzählen Arbeitsberater, würden einem Job gewachsen sein, wenn sie nicht gleich eine 40-Stunden-, sondern nur eine 25-Stunden-Woche ableisten müssten. Auch manche Führungskraft würde gerne freiwillig aus ihrer Position herausrotieren, wenn damit nicht gleich die Stigmatisierung als „Versager“ drohte.
In einer alternden Erwerbsgesellschaft ist der Umgang mit gesundheitlicher Labilität eine soziale Frage. Vielleicht sogar, wenn das Rentenalter wieder heraufgesetzt werden sollte, die entscheidende Frage für die Zukunft. Aber noch redet man nicht so gerne darüber. BARBARA DRIBBUSCH
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