: DDR-Opposition trifft sich
■ Neues Forum gibt sich Strukturen / Flüchtlingswelle mit Beginn der Herbstferien / Ausreise der Flüchtlinge in Warschau: Nicht über DDR-Gebiet
Berlin/Warschau (taz/dpa) - Etwa 120 der mittlerweile über 25.000 Mitglieder des Neuen Forums trafen sich am Samstag zu einem neuen Koordinierungstreffen in Ost-Berlin. Wie Professor Jens Reich am Sonntag gegenüber der taz bestätigte, reisten „Aktivisten und Interessenten“ aus allen fünfzehn Bezirken an. Sie vereinbarten, ab November eine eigene Zeitung herauszugeben, demnächst einen Koordinierungsausschuß zu bilden und eine begrenzte Zahl von SprecherInnen zu wählen. „Das wird dauern“, sagte Reich, „so ist das eben mit der Basisdemokratie.“ Die Versammelten waren sich einig, daß das Neue Forum sich nur dann auf Gespräche mit Partei- und Staatsvertretern einlassen wird, „sofern die Inhaftierten freigelassen und alle Strafbescheide aufgehoben werden“. Entgegen anderslautenden Meldungen hieß es dazu gestern im Ostberliner Kontaktbüro, daß noch nicht alle Inhaftierten auf freiem Fuß seien. Einen genauen Überblick zu geben war am Sonntag nicht möglich.
Nach Agenturberichten über Karl-Marx-Stadt hat der dortige Oberbürgermeister Vertretern des Neuen Forums einen Dialog angeboten. In Frankfurt/Oder seien Gespräche mit der dortigen Ost-CDU geplant. Die schriftlichen Vorschläge des Forums zu einem breiten Dialog und Reformen waren nach diesen Angaben auch Thema auf einer Sitzung des FDGB -Kreisvorstandes in Nordhausen.
Besonders Schwierigkeiten mit den Behörden haben Vertreter des Forums dagegen in Halle, wo es in den letzten Tagen zu einigen „Zuführungen“ von Mitarbeitern der Bürgerinitiative gekommen ist.
Die Bürgerbewegung „Demokratie jetzt!“, in der sich unter anderem Theologen, Künstler und Wissenschaftler zusammengeschlossen haben, hat die DDR-Bürger zur Solidarität mit den „gewaltfreien Reform- und Oppositionsgruppen“ aufgerufen. In dem neuen Informationsblatt, das eine Auflage von mehreren tausend Exemplaren hat, heißt es: „Wir schlagen Ihnen vor, Verbindung zu gleichgesinnten Gruppen in Ihrer Nachbarschaft zu suchen. Organisieren Sie Treffen in den Stadtbezirken und Kreisen. Wählen Sie Sprecherinnen und Sprecher. Entsenden Sie Vertreter zu überregionalen Veranstaltungen.“ Außerdem wird angeregt, in jedem Wahlkreis „Kandidaten für alle Volksvertretungen“ aufzustellen. „Demokratie jetzt!“ stützt sich nach Angaben von Sprechern auf inzwischen etwa 1.000 Mitarbeiter.
Der Zustrom von Flüchtlingen in den bundesdeutschen Botschaften in Warschau und Prag hat mit Beginn der DDR -Herbstferien am Wochenende wieder sprunghaft zugenommen. In der polnische Hauptstadt hielten sich am Sonntag 1.200 DDR -Bürger auf, die auf ihre Ausreise warten.
Völlig überraschend wurde am Wochenende zwischen der DDR und Polen eine „unbefristet gültige“ Ausreiseregelung getroffen. Das bedeutet, daß auch in Zukunft Flüchtlinge, die nach Polen kommen, ausreisen dürfen. Diese Regelung ähnelt der Praxis in Ungarn, wo sich im Malteser-Lager in Csilleberc bei Budapest erneut 400 Menschen sammelten, die noch am Sonntag mit acht Bussen in die Bundesrepublik gebracht werden sollten. Stark angestiegen war am Wochenende ebenfalls die Zahl von DDR-Bürgern, die von Ungarn Fortsetzung auf Seite 2
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nach Österreich wechselten. Von Samstag bis Sonntag früh kamen 2.035 Ausreisewillige in den Westen. Die Vereinbarung in Warschau wurde während zweitägiger Gespräche des stellvertretenden DDR-Außenministers Harry Ott im polnischen Außenministerium getroffen. Ost-Berlin habe dabei zur Bedingung gemacht, daß die Flüchtlinge nicht über DDR-Gebiet ausreisen. Unklar ist daher, wie der dritte Flüchtlingstreck aus Polen - am 1. und 5. Oktober waren insgesamt 1.442 Menschen in Sonderzügen ausgereist - abgewickelt wird.
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