piwik no script img

DAS PRINZIP STING

■ Sting und das Gefühl der Geborgenheit in der Waldbühne

DAS PRINZIP STING

Sting und das Gefühl der Geborgenheit in der Waldbühne

Kalt ist es. Die ersten Töne treffen uns in der langen Schlange am Imbißstand. Alle bleiben ruhig, niemand wird nervös, will den Anfang nicht verpassen. Sting steht vor uns und bestellt ein Bier für seine Musiker. Behutsamer Reggae, federnde Jazzarrangements, es wird nicht wärmer, und wir alle toben vor Begeisterung.

Die Lieder sind schon da, bevor er sie spielt. Sanft, sympathisch, entspannt, wie du und ich und unser Kind und unser Hund. Sting ist in jedem von uns, und wir alle sind in Sting. Sting singt, Sting tanzt, Sting ist. Der kleine blaue Hausaltar in der Waldbühne leuchtet. Sechs oder sieben dunkle, wirklich dunkle, farbige Komparsen und Sting im weißen Anzug, helle, blonde Haare - lang und wehend. Sting schwingt das linke Bein nach vorne, ein Schritt zurück, das rechte - wir schwingen mit. Sting tanzt engumschlungen mit einer Sängerin, im lila Scheinwerferkegel als Silhouette verdoppelt - wir schmiegen uns aneinander und küssen uns. Sting albert mit einem musikalischen Komparsen - wir lachen befreit. Sting twistet - wir erinnern uns. Sting ist Slapstick, Jazzdance, Chanson, Otto, Entertainer und nichts von alledem. Er kann alles und nichts richtig. So wie wir alle. So wie wir denken, daß wir könnten, wenn wir Sting wären. Wir sind Sting. Wenn er einmal in die Hände klatscht, klatschen Zehntausend. Ohne „Do you feel good“, ohne Aufforderung, ansatzlos, klatschen wir in ihm. Wenn er „Aoiee“ singt, singt es uns. Wenn er zu seinem langsamen Stück ansetzt, zünden wir unsere Wunderkerzen an. Wir fühlen uns gut, weil er uns alles gibt, was in uns ist. Schwarz tanzt mit Weiß, und er widmet den Song Nelson Mandela. Wenn er hart wird, ist das Weiche nicht fern, wenn uns der Refrain irgendwann dann doch zu dümmlich erscheint, versöhnt er uns mit einem Kunstlied.

Sting verkauft Musik. Er führt alles. Im Erdgeschoß die Jazzabteilung, im ersten Stock Pop und Rock, zweiter Stock, bitte aussteigen, Reggae, Funk und Südamerika, im Sonderangebot klassische Klaviereinleitungen und am Wühltisch Kurt Weill. „Kaufhaus-Harmonie“: Nichts klingt so, wie es einmal gefühlt wurde. Das Harte ist weich, das Sperrige geglättet, das Freie geordnet.

Alles ist genießbar. Sting macht Null-Musik. Die Beschreibung der Musik wird zur Beschreibung des kleinsten musikalischen Nenners aller Stile. Keine Parodie, kein Zitat, sondern Musik als Osmose des Musikpädagogen. Grenzen müßte er überschreiten, sie weiter machen, nicht trivialisieren, sondern popularisieren. „Pop-Musik ist einfach ein guter Fingerzeig“, über Mussorgski zur Malerei, über Weill zu Brecht, über „Russians“ zum Weltfrieden, über Sting zu Sting. Weiter geht's nicht.

Ein Sting-Konzert ist ein Sting-Konzert. Über Musik ist nicht zu reden. Die Musik auf der Bühne ist die Musik in den Köpfen. Die Verdoppelung von Harmonie bleibt Harmonie. „Ich mag Harmonie. Musik ist für mich die Ordnung im Chaos, und die Welt ist ein Chaos. Ich höre lieber Mozart oder Faures‘ Requiem als Schönberg oder OrnetteColeman. Wenn du auf die Bühne gehst und dort nichts anderes als Dissonanzen und arhythmischen Lärm produzierst, dann magst du vielleicht die Realität reflektieren, wirst aber womöglich vor einer leeren Konzerthalle stehen. Man muß die Leute ein bißchen verführen. Du mußt ihnen einen Gefühl der Geborgenheit geben, es ihnen bequem machen. Erst danach sollte man zum Angriff übergehen. Das ist weitaus effizienter, als vor einem Insider-Publikum zu spielen, das in der Absicht Platz genommen hat, sich eine Stunde unerträglichen Lärm reinzuziehen, weils gerade angesagt ist. Ich selbst war in Konzerten moderner Musik, und ich kann verstehen, was dort gespielt wird. Aber das Publikum langweilt sich zu Tode.“ Sting wird nie vor einer leeren Konzerthalle stehen, und wir langweilen uns, solange es uns Spaß macht. Das Prinzip Sting ist mit uns, und er führt uns dorthin, wo wir schon immer waren. Und dafür lieben wir uns.Konrad Heidkamp

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen