Covid-19 und die Flüchtlinge: Ihre Not ist längst real
Wegen Corona geht den Flüchtlingen an der türkisch-griechischen Grenze unsere Aufmerksamkeit verloren.
A bstand halten. Zu Hause bleiben. Gegenseitige Solidarität. So wichtig und richtig unsere Prämissen zur Corona-Bekämpfung auch sind, aus Sicht mancher Menschen müssen sie wie Hohn klingen: Weil sie kein Zuhause haben, in dem sie bleiben könnten. Weil es Abstand in einem überfüllten Lager nicht gibt. Und weil das ohnehin knappe Gut der Flüchtlingssolidarität in Zeiten von Corona erst recht zur Mangelware wird.
Auch am Grenzübergang Kastanies/Pazarkule hat die Pandemie inzwischen Einzug gehalten. Nicht weil die Menschen plötzlich krank geworden wären. Bis heute gibt es in dem Lager keinen einzigen bestätigten Corona-Fall. Krank waren sie nach Jahren der Flucht und Wochen unter Plastikplanen und Tränengas außerdem schon vorher. Nein, durch Corona ging den Flüchtlingen ein anderes überlebenswichtiges Gut verloren: unsere Aufmerksamkeit.
Ohne dass sich an der Not der 15.000 Menschen etwas geändert hätte, verließen schon vor zwei Wochen die meisten Reporter die Region. Mit ihnen verschwanden erst die Schlagzeilen und dann der öffentliche Druck: An das Versprechen mehrerer EU-Staaten, zumindest 1.500 minderjährige Flüchtlinge aufzunehmen, erinnern derzeit nur noch einige NGOs. Türkische und griechische Politiker nehmen das neuartige Virus als Rechtfertigung, um so weiterzumachen wie eh und je:
Während Griechenlands Migrationsminister Mitarakis illegale Deportationen nun mit Corona rechtfertigt, nutzen türkische Behörden die Angst vor dem Virus, um das Lager weiter abzuriegeln. Gerade jetzt wäre genau das Gegenteil nötig: Grenzen aus humanitären Gründen öffnen, Lager auflösen, die Menschen dezentral und mit Zugang zu medizinischer Versorgung unterbringen.
hat vergangene Woche an der griechisch-türkischen Grenze bei Kastanies/Pazarkule recherchiert und war einer der letzten JournalistInnen vor Ort.
Doch politische Maßnahmen, die dem Schutz von Flüchtlingen dienen, sucht man in Corona-Aktionsplänen ebenso vergeblich wie öffentliche Empörung über all das. Deshalb: Vergessen wir bei aller berechtigten Besorgnis, dass es bei uns zu einer humanitären Notlage kommen könnte, nicht, dass deren Not längst real ist.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Putins Atomdrohungen
Angst auf allen Seiten
Nahost-Konflikt
Alternative Narrative
James Bridle bekommt Preis aberkannt
Boykottieren und boykottiert werden
Krise der Linke
Drei Silberlocken für ein Halleluja
Umweltfolgen des Kriegs in Gaza
Eine Toilettenspülung Wasser pro Tag und Person
Stromversorgung im Krieg
Ukraine will Atomkraft um das Dreifache ausbauen