Cousin von Mahsa Amini im Interview: „Sie wurde zum Symbol für Freiheit“
Am 16. September starb Amini in Polizeigewahrsam. Ein Gespräch mit ihrem Cousin Erfan Mortezaie über Trauer, die Proteste und die Zukunft des Iran.
taz: Wie erinnern Sie sich an Mahsa „Zhina“ Amini?
Erfan Mortezaie: Zhina war ein sanftes Mädchen, aber auch sehr unabhängig, hatte immer ein Lächeln im Gesicht. Sie war gerne auf Reisen, liebte es, Gäste zu haben, mochte Musik, Theater und Kunst. Sie tanzte gerne, auch auf Partys. Sie war friedfertig – ich glaube nicht, dass irgendjemand ein Problem mit ihr hatte. Kurz vor ihrem Tod war sie an der juristischen Fakultät der Urmia-Universität im Westiran zugelassen worden. Nach ihrer Reise nach Teheran, die sie nicht überlebte, wollte sie sich auf ihr Jura-Studium vorbereiten.
Sie nennen sie Zhina, in ihrem Ausweis stand der Name „Mahsa“. Woran liegt das?
Aufgrund der Assimilationspolitik, die die Islamische Republik der kurdischen Nation auferlegt, sind kurdische Namen offiziell nicht erlaubt. Der Name Mahsa stand im Personalausweis, aber in der Familie und in der Gemeinde nannten wir sie immer Zhina.
Der 35-Jährige ist der Cousin mütterlicherseits von Zhina „Mahsa“ Amini. Er lebt außerhalb des Iran und traut sich daher, frei zu sprechen.
Seit ihrem Tod sind nun mehr als sechs Wochen vergangen – die traditionelle Trauerzeit im Iran dauert 40 Tage. Wie hat die Familie diese Zeit erlebt?
Es waren 40 schwierige Tage – 40 Tage, während derer unser Wunsch nach Rache immer stärker wurde. Zhinas Mutter geht jeden Morgen ins Zimmer ihrer Tochter, legt ihr Kleider aufs Bett, sieht sich Zhinas Bilder, Kleider und Bücher an und verlässt das Zimmer erst abends wieder. Zhinas Vater steht unter großem Druck zu sagen, dass seine Tochter krank gewesen sei und das Regime sie nicht getötet habe. Zhinas Bruder steht unter demselben Druck. Stellen Sie sich vor, ein diktatorisches und totalitäres Regime tötet Ihre Tochter, lügt darüber, und Sie wissen, dass Sie recht haben und die unrecht haben, doch dieses Regime erhöht Tag für Tag den Druck, Sie zum Schweigen zu bringen! Aber wir werden nicht schweigen – wir werden weitermachen, bis wir unser Ziel erreicht haben.
Wie äußert sich dieser Druck?
Am ersten Tag nach Zhinas Tod versuchten die Beamten und Unterdrückungskräfte der Islamischen Republik, die Veröffentlichung der Nachricht von Zhinas Tod zu verhindern. Der Familie teilten sie mit, es dürfte keine Beerdigung abgehalten werden. Mit Medien zu sprechen, wurde ihnen verboten. Die Behörden der Islamischen Republik wollten Zhina heimlich beerdigen lassen. Zhinas Familie hatte den Mut, das nicht zuzulassen. Gemeinsam mit der Unterstützung der heldenhaften Menschen von Saghez, Zhinas Heimatstadt, schufen sie an ihrer Beerdigung stattdessen einen in die Historie eingehenden Tag.
Welche weiteren Maßnahmen unternimmt das Regime?
In den letzten Tagen wollten die Regimebeamten, insbesondere die Informationsagentur von Saghez und der Provinz Kurdistan, Zhinas Eltern zwingen, vor den Kameras des iranischen Staatsfernsehens zu erscheinen und zu erklären, dass sie krank gewesen sei. Dieses Ziel konnten sie aufgrund des Widerstands von Zhinas Eltern und Bruder aber nicht erreichen.
Nach Zhinas Tod brach im ganzen Land eine Protestwelle unter dem Motto „Jin, Jian, Azadi“ (Frau, Leben, Freiheit) aus. Mittlerweile wird sogar von einer Revolution gesprochen. Was löst das bei Ihnen aus?
Zhina ist nicht mehr nur die Tochter unserer Familie, sondern die Stimme eines freiheitsliebenden Volkes, die Stimme revolutionärer Frauen, die seit 43 Jahren von der Islamischen Republik unterdrückt werden, die 43 Jahre Folter, Hinrichtungen, Klassen- und ethnische Unterdrückung erduldet haben. Sie ist die Stimme derer, die von Freiheit träumen, derer, die in einem gerechten und demokratischen System leben wollen. Zhinas Name ist zum Symbol für Freiheit und Emanzipation geworden.
Was wünschen Sie sich von den westlichen Staaten?
Es ist an der Zeit, dass sie die Stimme des iranischen Volkes hören. Sie müssen aufhören, die Islamische Republik zu unterstützen, ihre wirtschaftlichen Interessen beiseitelegen und Menschenrechte priorisieren. Die Islamische Republik liefert und entwickelt Waffen, vielleicht sogar eine Atombombe. Und das Regime filtert und unterbricht das Internet. Ich möchte, dass die europäischen Länder dem iranischen Volk kostenloses und freies Internet zur Verfügung stellen, damit die Stimme des kurdischen und iranischen Volkes die Welt erreicht.
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