Couchsurfing im Iran: Abgemildertes Chaos
Der junge Hamburger Autor Andreas Stichmann hat nach einem preisgekrönten Erzählband einen wilden ersten Roman geschrieben, den er jetzt im Norden vorstellt.
HAMBURG taz | „Das große Leuchten“ heißt der Debütroman von Andreas Stichmann – ein verheißungsvoller Titel ist das. Der Klappentext wirbt mit einem Zitat von Jack Kerouac. Darin steht, die Figuren würden niemals blinzeln, sondern „brennen, brennen, brennen wie phantastische gelbe Wunderkerzen“. Im Roman leuchtet der Raps in Norddeutschland gelb, auch der Sonnenaufgang und die Palastmauern im Iran.
Auf dem Weg zum Interview in Andreas Stichmanns „Fußball-gucken-Stammcafé“ im Hamburger Karoviertel leuchten in dieser Farbe nur die großen Schilder einer Tankstelle – da will er noch schnell hin, Zigaretten holen. Er wohnt um die Ecke vom alten Schlachthofgelände, seit er vor drei Jahren nach Hamburg zog.
Andreas Stichmann ist 29 Jahre alt. Nach seinem Studium am Literaturinstitut in Leipzig hat er ein dreiviertel Jahr in Südafrika in einer selbst verwalteten Dorfgemeinschaft gelebt und gearbeitet. Und soeben ist sein Roman erschienen, nachdem er 2008 bereits den Erzählband „Jackie in Silber“ veröffentlichte. Dafür erhielt er ein Jahr später den Clemens-Brentano-Preis.
Und mit einem Auszug seines neuen Romans war er zum diesjährigen Bachmann-Wettbewerb eingeladen. Fast ein bisschen schüchtern trat er da im dunklen T-Shirt und in blauer Jeans vor die Kritikerrunde. Auch am Tag des Interviews trägt er Blau in Blau, der Wind durchweht die Haare, eine unauffällige Kurzhaarfrisur, er zieht die erste Zigarette aus der pastellgelben Packung, die ganz leichten Gauloises.
„Ich wollte einen Abenteuer- und Reiseroman schreiben. Das war der erste Gedanke“, sagt er. „Ich hatte schon die Erzählung ,Frances stirbt‘ und eine Geschichte über einen iranischen Flüchtling. Das habe ich verbunden“, berichtet er etwas stockend; er ist noch nicht warm geredet. Aus „Frances stirbt“ stammen auch zwei Hauptfiguren des jüngsten Romans: Rupert, der Ich-Erzähler, und sein schizophrener Freund Robert. Roberts Mutter Frances taucht im neuen Buch ebenfalls auf.
Und in Erzählung und Roman bildet das Trio nach dem Selbstmord von Ruperts Mutter dessen schwierige Ersatzfamilie. In „Das große Leuchten“ kommt allerdings eine schräge Liebesgeschichte zwischen Rupert und Ana dazu. Sie ist der innere Motor der Geschichte: Ana, Tochter eines iranischen Flüchtlings, verschwindet eines Tages, und Rupert vermutet sie bei ihrer Mutter im Iran. Mit seinem Freund macht er sich auf dorthin, seine große Liebe zu retten. Denn dass Ana in Gefahr ist, scheint außer Frage.
Für die Recherchen war Andreas Stichmann zwei Monate lang per Couchsurfing im Iran unterwegs – also immer privat untergebracht, ständig neue Gesichter, Kontakte, Sich-Einlassen. Angesichts seiner zurückgenommenen Art im Gespräch überrascht das etwas. „Ja, das war auch anstrengend“, bekennt er. „Aber die Leute waren sehr gastfreundlich. Der erste hat uns vom Flughafen abgeholt, sich extra freigenommen. In Deutschland ist das kaum vorstellbar.“ Jetzt schwingt doch ein bisschen Begeisterung in seiner Stimme mit, der Blick öffnet sich, er wird präsenter.
Das Reisen sei überhaupt eine tolle Möglichkeit, Erfahrungen zu machen, die zu Hause nicht möglich wären, sagt er. Und Seinem Ich-Erzähler gehe das ja genauso.
Was jener Rupert allerdings an keinem Ort loswird, ist das ständige Infragestellen der Wirklichkeit. „Das ist für mich ein ganz grundsätzliches Problem“, sagt auch Stichmann. „Nicht nur beim Erwachsenwerden – ich bin ja schon einigermaßen erwachsen. Aber es ist immer ein Problem, sich eine Welt herzustellen, in der man das Gefühl hat, dass alles klar ist; das ist gut, das ist böse, hier kann ich jetzt bleiben, das muss ich machen“, sagt der Autor.
Aber tragen seine Figuren nicht besonders schwere Pakete mit sich herum? Und was hat es auf sich mit dieser Schwere, die in seiner Literatur ja auch präsent ist? Andreas Stichmann zögert, antwortet darauf nicht. „In meinem Umfeld, in meinem Leben ist das so, dass man nach dieser Orientierung sucht“, sagt er stattdessen. „Man wird ja nicht in eine geordnete Lebensbahn hineingeboren.“
Im Buch erzählt Stichmann intensiv, überbordend. Die Grenzen zwischen Realem und Traumlogik verschwimmen oft. Doch während ihm Grenzüberschreitungen schreibend sehr gut gelingen, ist er persönlich schnell zu irritieren. Als der hinzukommende Fotograf ihn mal von hier, mal von dort knipsen will, lenkt ihn das ab. Wir verschieben das weitere Fotografieren auf das Ende des Gesprächs.
„Eigentlich erzähle ich ja eine umgekehrte Aussteigergeschichte“, sagt Andreas Stichmann dann. „Jemand will einsteigen in ein Leben.“ Und betont nochmal, dass es doch die gewöhnliche Grundsituation im Leben sei, nach Möglichkeiten zu suchen, die „das Chaos abmildern“.
Für seine Generation gelte das vielleicht besonders, meint er. „Da laufen doch alle vereinzelt herum, ohne vernünftige Beziehungsgeflechte.“ Man könne aber eben eine Familie „nicht einfach herstellen“, und das klingt fast nach Bedauern. Dieses „Herstellen“ gelingt auch der Romanfigur Rupert nicht – aber er hätte es gerne, das Kleinfamilienglück mit Ana. Deshalb rennt er mit einer Knarre herum, will eine Bank überfallen – damit er das Geld für eine Mietwohnung hat.
Rupert, Robert und Ana sind leuchtende Figuren, man kann auch sagen, dass sie „brennen“, aber ihre Sehnsucht nach der so genannten Normalität ist groß. Ihre übersteigerten Phantasien, ihre Irrwege sind Versuche, so ihr Schöpfer Andreas Stichmann, „eine Realität herzustellen, in der man sich dauerhaft aufhalten kann“.
Stichmanns Weg, das zu tun, ist das Schreiben: „Ideal ist es, wenn man für sich sagen kann, dass man von Buch zu Buch weiter lernt. Ich bin auf jeden Fall woanders angekommen, als ich beim Beginn des Schreibens war.“
Andreas Stichmann liest am 19. 9. in Hamburg beim Harbour Front Literaturfestival und am 4. 10. in Hannover beim Literarischen Salon.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Pelicot-Prozess und Rape Culture
Der Vergewaltiger sind wir
Rechtsextreme Demo in Friedrichshain
Antifa, da geht noch was
Trendvokabel 2024
Gelebte Demutkratie
Bundestagswahlkampf der Berliner Grünen
Vorwürfe gegen Parlamentarier
Mord an UnitedHealthcare-CEO
Gewalt erzeugt Gewalt
Berliner Kultur von Kürzungen bedroht
Was wird aus Berlin, wenn der kulturelle Humus vertrocknet?