Corona und Männergewalt in der Türkei: Frauen leben gefährlich in Quarantäne
Zuhause zu bleiben, kann für Frauen gefährlich werden: In Istanbul stiegen im März Fälle häuslicher Gewalt um 38 Prozent im Vergleich zum Vorjahr.
Zuhause bleiben: Überall auf der Welt steht dieser Appell an erster Stelle. Für Frauen gilt jedoch unter Umständen ein Satz, der auf einem Protestschild bei der Istanbuler Frauendemonstration am 8. März zu sehen war: “Das Patriarchat ist tödlicher als Corona.“ Dem Istanbuler Polizeipräsidium zufolge stieg die häusliche Gewalt in der Metropole um mehr als 38 Prozent im Vergleich zum Vorjahr. Im März 2019 waren 1.804 Fälle gemeldet worden, im März 2020 waren es 2.493.
Frauenorganisationen weisen auf den Anstieg männlicher Gewalt seit Beginn des “Zuhausebleibens“ hin. Adile Doğan vom Frauensolidaritätsverein Esenyalı sagt, gewöhnlich rufe alle drei bis vier Tage eine Frau das Nottelefon an, weil sie selbst oder ihre Kinder Gewalt erfahren haben. Seit Beginn der Pandemie seien es vier Anruferinnen pro Tag. So gut wie alle von ihnen geben an, auch schon in der Vergangenheit männliche Gewalt erlebt zu haben. Den Frauen zufolge nehmen die Gewalthandlungen der Männer aufgrund der durchgehenden Isolation in der Wohnung nun drastisch zu.
Doğan zitiert eine Frau, die sich vergangene Woche an den Verein wandte: “Wir sind die ganze Zeit zuhause. Bisher haben wir uns immer nur abends gesehen. Wenn er draußen war, hatte ich meine Ruhe und konnte durchatmen. Er hat mich geschlagen, weil er zuhause war und sich langweilte. Ich habe überall Schwellungen.“ Ähnliche Geschichten erzählen viele Anruferinnen.
Oft lernen Männer unter der Quarantäne erst das Leben der Frauen kennen, mit denen sie seit langer Zeit zusammen sind. Eine Betroffene berichtet, ihr Mann habe sie geschlagen, weil sie Vögeln Brotkrumen hingeworfen habe: “Ich mache das immer, aber er kennt mich einfach nicht. Er hätte mich auch für irgendetwas anderes geschlagen, das ich nunmal tue.“ Eine andere Betroffene lebt derzeit in Quarantäne mit zwei Kindern und dem Mann, von dem sie sich scheiden lassen will. Sie hat kein Einkommen und kann keine eigene Wohnung anmieten.
Häusliche Isolation fördert Männergewalt
Viele Frauen müssen nicht nur die Wohnung mit einem Gewalttäter teilen, sondern gleichzeitig allein den Haushalt führen, Kinder betreuen und ältere Verwandte pflegen. Beim Homeschooling in der Türkei obliegt es den Eltern, die Lernzeiten der Kinder zu kontrollieren. Gleichzeitig muss für alle Anwesenden gekocht und aufgrund gestiegener Hygieneanforderungen mehr geputzt werden. Hinzu kommen Einkäufe und in vielen Fällen die Pflege eigener Eltern. Bei den zementierten Geschlechterrollen in den meisten Familien der Türkei sind Frauen allein für all diese Aufgaben verantwortlich.
Die Gemengelage aus Gewalt, Armut, Pandemie und fehlenden Zufluchtsorten heißt für Frauen häufig, dass sie die Lösung ihrer Probleme auf eine Zeit nach der Krise verschieben. Dass Menschen in der häuslichen Isolation gezwungen sind, auf engstem Raum viel Zeit miteinander zu verbringen, fördert wiederum männliche Gewalt gegen Frauen.
In vielen Medienberichten über die oft tödliche männliche Gewalt in der Türkei wird darauf hingewiesen, dass Gewaltverbrechen eine Vorgeschichte haben. Oft bestehen bereits Schutzanordnungen, über die sich der Täter hinwegsetzt, um eine Frau zu töten, oder die Ermordete hatte sich bereits an die Polizei gewandt, die ihre Aussagen aber nicht ernst nahm. Die bestehenden Schutzmechanismen sind also ohnehin schon problematisch. Ihre Umsetzung in Krisenzeiten ist Anlass zu noch mehr Sorge.
Der türkische Rat der Richter und Staatsanwälte veröffentlichte am 30. März eine Verordnung über “Zusatzregelungen in Bezug auf Covid-19“, die unter anderem festlegt, dass einstweilige Verfügungen im Rahmen des Gewaltschutzgesetzes so ausgelegt werden müssen, dass durch ihre Anwendung keine Gesundheitsrisiken in Bezug auf Covid-19 entstehen. Was das bedeuten soll, steht da allerdings nicht. Werden Schutzanordnungen und Auflagen ausgesetzt? Kann die Polizei darauf verzichten, einen Mann festzunehmen, der wegen einer häuslichen Gewalttat angezeigt wurde? Der Gummiparagraph wird von Frauenorganisationen scharf kritisiert.
Frauenhäuser sind überbelegt
Frauenhäuser sind in vielen Fällen erst die allerletzte Notlösung, da die Lebensbedingungen in den bestehenden Einrichtungen zunächst einmal abschreckend sind. Einer Frau, die das Nottelefon angerufen hat, schlug der Frauensolidaritätsverein vor, in ein Frauenhaus zu gehen. Doch sie war schon einmal in einem und antwortete: „Ich warte lieber zuhause, wenn er noch einmal versucht mich zu schlagen, gehe ich ins Frauenhaus.“
Eine Mitarbeiterin eines Istanbuler Frauenhauses, die ihren Namen nicht in der Zeitung lesen möchte, spricht von einer dauerhaften Überbelegung der Einrichtungen. In dem Frauenhaus, das 40 Plätze hat, sind derzeit 68 Personen untergebracht. Sie hat mit einer Abnahme von Neuzugängen aufgrund der Infektionsgefahr gerechnet. Doch die Anzahl der Frauen, die hier Schutz suchen, nimmt aktuell zu.
Wer jetzt einen Platz im Frauenhaus bekommt, wird nach Möglichkeit erst einmal von den anderen Bewohnerinnen isoliert. Doch einen konsequenten Infektionsschutz kann die Einrichtung nicht umsetzen. Die Mitarbeiterinnen seien völlig sich selbst überlassen und hätten keinen Zugang zu Materialien zum Seuchenschutz.
Hauptrisikogruppe sind Frauen
Derweil wird im türkischen Parlament eine Amnestie für Inhaftierte diskutiert, um die gefährliche Situation in den ebenfalls überbelegten Gefängnissen zu entschärfen. Ausgenommen von dieser Amnestie sind politische Gefangene. Diese Maßnahme kann für Frauen ein weiteres Risiko darstellen. Frauenorganisationen äußern sich besorgt darüber, dass Männer, die ihren Frauen gegenüber gewalttätig waren, aus dem Gefängnis entlassen werden könnten, wenn der Gesetzesentwurf, der seit dem 7. April im Parlament diskutiert wird, angenommen wird. Der Gesetzesentwurf sieht vor, dass Gewalttäter unter Auflagen freikommen oder eine Haftminderung bekommen können.
Die Rechtsanwältin Oya Meriç Eyüboğlu hält das Versprechen der Regierung, verurteilte Gewalttäter gegen Frauen nicht einfach aus den Gefängnissen zurück in ihre Wohnungen zu schicken, für wenig vertrauenswürdig. Da Gewalt gegen Frauen im türkischen Strafrecht überhaupt nicht als solche erfasst wird, gebe es kaum eine Handhabe für eine solche Ausnahme. Für die Anwältin ist klar, dass der Staat seiner Aufgabe, die Gesundheit der Bürger*innen zu schützen, nicht auf Kosten der Sicherheit anderer Bürger*innen nachkommen dürfe.
“Das Leben zu Corona-Zeiten ist nicht nur in der Türkei eine Herausforderung. Besonders betroffen sind Menschen, die weiterhin zur Arbeit gehen müssen“, sagt Eyüboğlu. Hauptrisikogruppe seien allerdings Frauen. “Wir sind zwischen Corona-Virus und toxischer Maskulinität eingekesselt. Wenn wir Corona überleben, sterben wir vielleicht an männlicher Gewalt.“
Daher fordert die Anwältin für die Corona-Zeit eine besondere Hotline gegen männliche Gewalt, hinter der Strukturen stehen, die im Notfall auch sofort eingreifen können. Damit Frauen nicht nur zuhause, sondern auch am Leben bleiben können.
Aus dem Türkischen von Oliver Kontny
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