piwik no script img

Computerspiele für BlindeTschkk-Tschkk, Klick, Klick, Klick

Erkin Simsek und Sebastian Dellit lieben Computerspiele. Sie sehen mit den Ohren – und hoffen auf mehr Unterstützung durch die Hersteller.

Sieht das Nichts wie eine Bildstörung aus? Bild: 106313 / photocase.de

Zum Töten schaltet Erkin Simsek den Bildschirm aus. Er drückt drei Knöpfe: runter, vorwärts, Quadrat. „Klick, Klick, Klick.“ Seine Finger rasen über den Controller.

Es ist Freitagabend. Erkin lädt eine Pumpgun. Tschkk-Tschkk.

Dann drückt er auf dem Controller: runter, vorwärts, Quadrat. Seine Figur ist der Joker, ein fieser Clown mit breitem Grinsen. Der Joker schießt. Sein Gegner, der aufgepumpte Superheld Sinestro, verteidigt sich mit heißen Elektroblitzen. Erkins Augen sind geschlossen, den Controller hält er auf Brusthöhe. Er spielt mit einem Kopfhörer, um keinen Ton zu verpassen. Wenn es knifflig wird, drückt Erkin seinen Kopf gegen die Rückenlehne. Als Sinestro nach einer missglückten Attacke rückwärts läuft, schlägt Erkin genau im richtigen Moment zu. „Boah, das war knapp“, sagt er.

Erkin ist 21 Jahre alt, unter der Woche ist er Auszubildender in einer Bankfiliale. Am Wochenende wohnt er bei seinen Eltern in einem großen Haus nahe der Münchner Innenstadt. Auf seinem Schreibtisch steht neben dem Bildschirm ein Musikmischpult, im Flur spiegeln sich Halogenlampen im Marmorboden. Wenn Erkin vom Zocken spricht, lacht er viel.

Es ist schon spät geworden in München, als Erkins Finger an der Unterkante seines Bildschirms entlangkrabbeln. Er ertastet den letzten Knopf. „Ich schalte mal an“, sagt er. „Sehende müssen ja immer was sehen, sonst verstehen sie das nicht.“

Nicht sehen, aber hören

Erkin spielt „Injustice“, ein Kampfspiel, in dem bekannte Figuren wie Sinestro, Catwoman und der Joker mit Waffen und Fäusten aufeinander einprügeln. Die Charaktere sind detailgetreu animiert, der Joker trägt Schminke in seinem gruseligen Gesicht. Das Spielfeld ist ein verlassenes Fabrikgebäude mit Graffiti und zerbeulten Metalltüren, Kabel hängen von der Decke, Müll liegt umher. All das kann Erkin nicht sehen, aber er würde es gern hören.

Runter, vorwärts, Quadrat. Erkin murmelt in sich hinein. Der Joker rennt mit gezücktem Messer auf Sinestro los. Ein Stöhnen ist in seinen Kopfhörern zu hören. Erkins Gegner Sinestro krümmt sich – und stirbt. „Der Joker gewinnt“, sagt eine Frauenstimme. Erkin legt den Controller vor sich auf den Schreibtisch und grinst: „Der Computer ist gut, aber ich bin tausendmal besser.“

Bei Injustice wird jede Bewegung der Figuren mit einem spezifischen Geräusch untermalt. Für sehende Spieler ein Bonbon, das das Spiel spannender macht. Erkin orientiert sich mithilfe dieser Geräusche auf dem Spielfeld. „Ich höre, wo der Gegner steht, welche Waffe er verwendet“, sagt er. Erkin kann dem Spiel folgen, weil das Sounddesign so exakt ist, dass er durch die Geräusche ein Bild vom Spiel bekommt.

Erkin sieht mit den Ohren. Er scheitert nur dann, wenn er etwas in den Einstellungen ändern will. Spielmenüs haben meist kein Sounddesign. Was für sehende Gamer selbstverständlich ist, wird für Erkin zum Problem: „Wie wähle ich meine Gegner aus?“, fragt er. „Natürlich ist es super, Knochen brechen zu hören. Was wir aber brauchen, ist eine Sprachausgabe für die Spiele, damit wir überhaupt über das Menü hinauskommen“, sagt Erkin.

Ein schwarzer Bildschirm

Im Alter von sechs Jahren begann Erkin mit dem Zocken. Damals half ihm sein Bruder, Pro Evolution Soccer per Gehör zu spielen. Um ein neues Spiel zu beherrschen, lässt sich Erkin von sehenden Freunden durch Menüs führen. Er lernt jeden Schritt, jedes Geräusch auswendig. Erkin ist von Geburt an blind. Er kann hell und dunkel und grobe Umrisse sehen, aber keine Spielfiguren auf dem Bildschirm. Deshalb schaltet er ihn nicht an.

Erkin spielt mit dem Ton.

Nürnberg, fünf Tage später. Im elften Stock eines grauen Betonklotzes am Stadtrand öffnet Sebastian Dellit die Wohnungstür und streckt seine rechte Hand ins Ungewisse. Die Aussicht ist schön von hier oben, aber Sebastian kann sie nicht sehen. Er ist 32 Jahre alt, seine Haare sind kurz rasiert. Er trägt Jeans, T-Shirt, Hausschlappen. Seine Blindenhündin Abby liegt an seinen Füßen. Sebastian sitzt auf einem blauen Bürostuhl und streichelt sie, dann verschränkt er die Arme und sagt: „Wir wollen keine Extrawurst. Wir wollen einfach nur spielen.“

Von Geburt an war er stark kurzsichtig, bis sich Wasser hinter der Netzhaut sammelte und sie löste. „Bis vor 13 Jahren“, erzählt Sebastian, „konnte ich Spiele auch noch sehen.“ Er verlor seine Sehkraft von Tag zu Tag, auch zahlreiche Operationen konnten das nicht verhindern. Um weiter spielen zu können, behalf er sich jahrelang mit einer Kortisoncreme. Wenn er abends von einer Party nach Hause kam, fiel ihm das Spielen leichter. Alkohol entzieht dem Körper Wasser.

„Irgendwann war dann Schluss“, sagt er und presst die Lippen zusammen. „Ich musste das akzeptieren.“ Sebastian akzeptierte, dass er blind wurde – aber er wollte nicht akzeptieren, mit dem Spielen aufhören zu müssen. Im Jahr 2003 gründete er das Forum gameport.blindzeln.org. Heute zählt die Plattform mehr als 100 Mitglieder, alles blinde Gamer. Über eine E-Mail-Liste diskutieren sie neue Spiele, teilen Tricks und verabreden sich zu gemeinsamen Spielsessions per Skype und Netzwerk. „Es könnten mehr sein“, sagt Sebastian. „Es gibt viele Blinde, die gerne spielen würden, aber nicht wissen, wie.“

Keine Lust, auf die Politik zu warten

In Deutschland vibrieren Ampeln. Ticketautomaten können sprechen, Bahnsteigkanten sind geriffelt und Computertastaturen mit Blindenschrift ausgestattet. Die Bundesregierung bezeichnet die Inklusion behinderter Menschen als ein besonderes Anliegen. Zahlreiche Initiativen, Lobbygruppen und Vereine kümmern sich um dieses besondere Anliegen.

Aber Erkin und Sebastian haben keine Lust, auf die Politik zu warten. Um so zu leben, wie sie es sich wünschen, wollen die beiden Blinden nicht auf ihr Lieblingshobby verzichten: Computer spielen. Sie wollen an den Gamepads nicht ausgeschlossen werden, nur weil sie blind sind. Doch die Welt der Computerspiele ist eine Welt für Sehende. Es ist eine Welt, deren Grafik immer realistischer wird. Diese Welt ist eine No-go-Area für Blinde. Es ist eine Welt, in der Erkin und Sebastian eigentlich keinen Platz haben.

Injustice, Erkins Prügelspiel, wurde nicht speziell für Blinde programmiert. Es gehört zu den Spielen, die sich Blinde zu eigen gemacht haben. „Einen Zufallstreffer“ nennt Sebastian, der Gameport-Gründer aus Nürnberg, solche Spiele. Doch oftmals wissen die Entwickler nichts von blinden Usern.

Dabei sind die technischen Lösungen schon lange vorhanden. Ein sprechendes Menü funktioniert über ein Programm, das Schriften vorliest. Beim iPhone heißt dieses Programm „VoiceOver“ und ist seit dem Jahr 2009 auf Millionen von Apple-Handys installiert. Es ist der Beweis für eine technische Lösung – „für die sich niemand interessiert“, sagt Sebastian resigniert auf seinem blauen Schreibtischstuhl.

Wo beginnt Inklusion?

Er hat sich oft gefragt, warum blinden Spielern keine sprechenden Menüs angeboten werden. Wie ernst gemeint ist die Idee der Inklusion eigentlich? Beginnt Inklusion nicht im Alltag, bei den Dingen, die das Leben lebenswert machen?

Er stellte diese Fragen an große Softwarefirmen, er schrieb ihnen Briefe und E-Mails. Die Unternehmen verkaufen Spiele wie Fifa, Super Mario oder Tomb Raider, die Millionen Gamer auf der ganzen Welt begeistern. Der geschätzte Jahresumsatz der Branche liegt im zweistelligen Milliardenbereich. Sebastian wünscht sich von den Unternehmen sprechende Menüs, mehr Stimme, mehr Ton, mehr Geräusche. „Ich würde gerne mit Sehenden gemeinsam spielen.“

Bis heute wartet er auf eine Antwort.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen

Mehr zum Thema

0 Kommentare

  • Noch keine Kommentare vorhanden.
    Starten Sie jetzt eine spannende Diskussion!