Coming-of-Age-Film „Die Mitte der Welt“: Sich ins Leben tasten
Ein viel zu seltener Glücksmoment der Diversität im deutschen Film: Jakob M. Erwas Romanverfilmung des Jugendbuchs „Die Mitte der Welt“.
Phil ist zurück von einem Feriencamp; zurück zu Hause, wo plötzlich alles anders ist als vorher. Seine Schwester Dianne geht allen aus dem Weg, sie und Phils Mutter, Glass, reden kein Wort mehr miteinander. Passend zur Wüste des Schweigens und den geschlossenen Türen, vor denen er sich unvermittelt wiederfindet, hat kurz zuvor ein Sturm eine Spur der Verwüstung hinterlassen. Links und rechts des Waldwegs, der von der Kleinstadt hinaus zu dem Haus führt, in dem die Familie lebt, liegen umgeworfene Bäume.
Apropos Familie: Was uns Regisseur Jakob M. Erwa in „Die Mitte der Welt“ nicht zeigt, sehen wir gleich zu Beginn des Films – eine kurze Bildfolge mit Standfotos endet mit dem Stockfoto einer glücklichen heterosexuellen Kleinfamilie vor Sonnenuntergang. Stattdessen Phil, „ein ganz normales Landei, vielleicht ein bisschen schwuler als andere, aber sonst Standardausstattung“, seine sehr in sich zurückgezogene Schwester (Ada Philine Stappenbeck), die Mutter Glass (Sabine Timoteo), eine leidlich chaotische Mittvierzigerin, die ihre Abwehrstrategien kultiviert hat. Außerdem das lesbische Paar Tereza und Pascal.
Als es Phils Mutter Glass aus den USA in die deutsche Provinz verschlagen hat, hat sie den Erzeuger der beiden Zwillinge zurückgelassen und Phil und Dianne mit Unterstützung durch Tereza großgezogen. Ihren Vater haben Dianne und Phil nie kennengelernt, nur die wechselnden Liebhaber der Mutter.
Von der Kleinfamilie vor Sonnenuntergang ist Phils Familie denkbar weit entfernt. Bildfolgen wie die mit der Kleinfamilie nutzt Erwa im Laufe des Films aber einige Male, um die Geschichte mit visuellen Assoziationsräumen zu umgeben. Die letzten Ferientage, die Phil (Louis Hofmann) mit seiner bester Freundin Kat verbringt, sind schnell vorüber. Als am ersten Schultag ein neuer Mitschüler in Phils Klasse kommt, verschlägt es ihn auf Wolke sieben. Nicholas, sportlich, die Haare fluffig wippend, tritt in Zeitlupe in die Klasse und damit in Phils Leben. Von da an beobachtet Phil Nicholas Tag für Tag beim Lauftraining, erkunden seine Augen Nicholas’ Körper beim Training, betrachtet er abends schwärmend Handyvideos von Nicholas'Training am Tag.
Eine gute Entscheidung
Währenddessen schleicht sich Phils Schwester Dianne Nacht für Nacht durch das Fenster ihres Zimmers davon und entschwindet in ihre eigene Welt, zu der sie Phil wie allen anderen den Zutritt versperrt. Verwundert sieht Phil ihr dabei vom Fenster seines Zimmers aus zu. Weder Dianne noch Phils Mutter verlieren ein Wort über das, was vorgefallen ist. Eines Abends wird Phil Dianne folgen.
Jakob M. Erwa hat für die Verfilmung von Andreas Steinhöfels Erfolgsbuch „Die Mitte der Welt“ die Personen gegenüber dem Buch deutlich reduziert und die Handlung auf den Wechsel zwischen Familiendrama und Phils Beziehung zu Nicholas konzentriert. Eine gute Entscheidung, hat das Buch doch ein überaus reiches Personal mit zahlreichen Nebenrollen. Zudem blendet der Film (wie das Buch) ohnehin schon zwischen Gegenwart und Vergangenheit von Phils Familie hin und her. Szenen aus der Kindheit sitzen der Handlung unverarbeitet im Nacken.
Nachdem Phil einmal während Nicholas' Training nicht auf der Tribüne sitzt, kreuzen sich die Wege der beiden später am Tag im Supermarkt. Verdutzt erfährt Phil, dass er nicht unbemerkt geblieben ist. Das Sportplatzdate am nächsten Tag endet mit Sex unter der Dusche der Umkleidekabine, und Phil schwebt anschließend auf einer rosaroten Wolke über dem Sofa von Tereza und Pascal. Terezas Gartenlaube wird für Phil zum Refugium, an dem er sich ungestört mit Nicholas treffen oder in Ruhe allein sein kann.
Eine angenehme Leichtigkeit durchzieht „Die Mitte der Welt“. Mit großer Entspanntheit setzt Erwa die Geschichte Stück für Stück zusammen. Weder Phils Schwulsein, noch die Patchworkfamilie, noch die Narben der Vergangenheit (die vor allem im Konflikt zwischen Phils Mutter und Schwester immer wieder sichtbar werden) stellt der Film aus; sie sind einfach da, sind Teil der Welt der Geschichte, einer Welt, die die Figuren des Films gemeinsam errichtet haben.
Kein banales Psychologisieren
Dass nicht jedes der visuellen Elemente funktioniert, die Erwa in den Film hineingebastelt hat, fällt dagegen kaum ins Gewicht. Visuelle Sperenzchen wie die auf das Bild geblendete Handykommunikation zwischen Phil und Kat beispielsweise fügen sich nicht recht in den Film. Wie man aus solchen Elementen Filmebenen formt, könnte sich Erwa in den Kurzfilmen von Jennifer Reeder angucken. Die erwähnten Bildfolgen funktionieren demgegenüber weit besser als ein visueller Verweis auf die Welt, durch die die Figuren sich bewegen. Das bereichert den Film auch deshalb, weil er – allen emotionalen Konflikten zum Trotz – nicht in das im deutschen Film so weit verbreitete banale Psychologisieren verfällt. Das fällt auch am Umgang von Phils Umfeld mit dessen Beziehung zu Nicholas auf: Die beiden werden von von Anfang an nicht betüddelt, sondern ernstgenommen.
Für einen Film, der nicht nur, aber doch wohl auch Jugendfilm sein möchte, ist das ein sehr angenehmer Zug: Während Phils Mutter Glass ihm desillusionierte Beziehungsratschläge gibt, versuchen vor allem Tereza und Pascal Phil klarzumachen, dass er seine Beziehung aktiv gestalten kann.
Diese Haltung ermutigender Empathie zieht sich auch durch die Sexszenen zwischen Phil und Nicholas, für die Regisseur Erwa und Kameramann Ngo The Chau sinnlich lustvolle Bilder finden, die das tastend Erkundende der beiden ins Bild setzen, ohne (anders als Abdellatif Kechiches „Blau ist eine warme Farbe“) daraus ein homosexuelles Kamasutra zu machen. So wechseln in der ersten Sexszene unter der Dusche die Bilder zwischen Aufnahmen der beiden Körper unter der Dusche und Bildern von Phil auf dem Weg nach Hause und bebildern so nicht nur den Sex als solchen, sondern auch Phils Erleben.
Bilder zu finden, die spiegeln, was das Erlebte in Phils Kopf auslöst, gelingt Jakob M. Erwa und Ngo The Chau immer wieder im Verlauf des Films: ob es der Waldweg ist zum Haus, in dem Phil lebt, oder einzelne Blicke und Gesten. Der Film strahlt durch diese Verarbeitung der Handlung im Film (die mal melancholisch gefärbt wird, mal freudig glucksend) aller Dramatik der Handlung zum Trotz eine zuversichtliche Ruhe aus.
Der mechanische Prinz wartet
Mit „Die Mitte der Welt“ hat Erwa einen ruhigen, klugen Coming-of-Age-Film gedreht. Ein kleiner Glücksmoment der Diversität im deutschen Film. Wobei Diversität eigentlich schon immer das falsche Wort war: Wie das Buch zeigt der Film, dass das, was das Label Diversität bezeichnet, ohnehin schon immer Teil der Realität ist. Einer im Film noch immer viel zu wenig gezeigten Realität.
Jakob M. Erwas vierter Langfilm ist – man möchte es kaum glauben – die erste Verfilmung eines Jugendbuches von Andreas Steinhöfel. Während sich die „Rico, Oskar und“-Filme zu einer festen Größe des deutschen Kinderfilms gemausert haben, hat sich der vielgelobten Jugendromane von Steinhöfel überraschenderweise noch niemand angenommen.
„Der mechanische Prinz“ harrt ebenso der Verfilmung wie der Beziehungs-Briefroman „David Tage Mona Nächte“ oder Steinhöfels neuster Roman „Anders“. Auf weitere filmische Umsetzungen von Steinhöfels spielendem Wechsel zwischen Narration und Reflexion, der sich durch alle diese Bücher zieht, wäre zu hoffen.
„Die Mitte der Welt“. Regie: Jakob M. Erwa. Mit Louis Hofmann, Svenja Jung, Jannik Schühmann u. a. Deutschland/Österreich 2016, 115 Min.
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