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Archiv-Artikel

Ciao Eros

Dickes Ei: Morrissey, Ex-Smiths-Frontmann und Neugeborener, legt mit „Ringleader of the Tormentors“ ein gut gelauntes zehntes Solo-Album vor

VON KIRSTEN RIESSELMANN

Alles andere als Platz eins in den Hitparaden wäre eine Beleidigung, schrieb die Süddeutsche schon Wochen vor der Veröffentlichung. Sorgen umsonst gemacht. Zwei Tage nach Veröffentlichung führt Morrisseys neues Album am Samstag schon auf Platz eins die britischen Charts an. 63.000 Leute haben bis da „Einmal ‚Ringleader of the Tormentors‘, bitte“ am Tresen verlangt. Und werden sich ihres Einkaufs wegen nicht grämen müssen, tragen sie doch ein triumphales Popgroßwerk – der Begriff „Alterswerk“ fährt dem gerade zu neuer Höchstform auflaufenden 46-Jährigen ein bisschen dreist in die Parade – nach Hause.

Vorne drauf der Mozzer als Konzertmeister, die Violine an der Wange, die weiße Fliege um den Hals. Hintendrauf der Neu-Römer auf der Vespa, vor einem „Smash Bush“-Graffiti. Innen drin alles, was einen Triumph musikalisch zu ummänteln geeignet ist: Gongs und Marschtrommeln, Donnergrollen und Regenprasseln, Stierkampf-Gitarren und Knabenchöre, von Ennio Morricone arrangierte Streicherteppiche. Glamrockende Oden an Pasolini, balladeske Hymnen auf das Leben as such, bombastomanische Vatertötungsfantasien. Super Popsongs. Der selbst ernannte Rädelsführer der Quälgeister kassiert den Zeitgeist, setzt den dick auftragenden Wahnwitz wieder als Ultima Ratio der Pop-Ordnung ein, und das – Achtung! – lächelnd.

„Früher war ich ein Häufchen Elend, das sich wegen seiner Fleischeslust geschämt hat, aber es ist erstaunlich, was man lernen kann, wenn man – endlich geboren ist.“ Das aus dem Mund des seit seinen Tagen als Smiths-Vorsänger eigentlich auf Autopilot gestellten Impresarios des Weltekels – hallo! War da nicht mal was von wegen aus unerfüllbarer Sehnsucht am liebsten vom Zehntonner überfahren werden? Gab es da nicht mal diesen aus verschwurbelt ästhetischen Gründen zölibatär lebenden Rächer aller dauergekränkten Dauerpubertierenden? Diesen Oscar Wilde-Verschnitt, der de profundis „Viva Hate!“ schrie, der vor Skinheads „England for the English“ sang, dazu im goldenen Hemdchen mit Union Jack wedelte und dann als beleidigte Leberwurst nichts gegen die Rassismusvorwürfe unternahm, sondern lieber nach Hollywood ins Exil ging? Diese Diva, die noch auf dem vor knapp zwei Jahren erschienenen letzten Solo-Album mit Großmannshybris Jesus vergab? War Morrissey als irgendwie queere, intellektuell-manische, irisch-englische Arbeiternudel aus dem grauen Manchester nicht immer die größte anzunehmende Eros-Thanatos-Kollision?

Und jetzt plötzlich das: In dem fröhlichen Rocker „In The Future When All’s Well“ wundert sich Morrissey: „Ich lebe länger, als ich vorgehabt hatte – irgendwas muss da richtig gelaufen sein!“ In „On The Streets I Ran“ fleht er Gott an, nicht ihn sterben zu lassen, sondern doch bitte lieber Ungeborene, Neugeborene oder einfach die Leute aus Pittsburgh, Pennsylvania! Und auch wenn im zentralen Stück „Life Is A Pigsty“ das Leben erst noch mal Saustall sein darf, gibt Morrissey dann mit aller Vehemenz zu, dass er „even now, in the final hour of my life“ immer wieder „in love“ fällt. In „Dear God Please Help Me“ wird Morrissey dann von allen Morrissey-Geistern verlassen: Falsettierend rennt der Ex-Asexuelle durch seine Wahlheimat Rom – und macht doch tatsächlich einen auf dicke Eier. Genauer: Er besingt die „explosiven Fässchen“ zwischen seinen Beinen sowie die Beine anderer, die er „öffnet“. Huha, das ist schon ganz erheblich drüber – ein 46-jähriger Unberührbarer im Pophimmel geht derart viril verschmalzt die eigene Sexualität entdecken. Man lupft die Augenbrauen. Mit „At Last I Am Born“ kommt dann noch das angemessen dicke Ende: eine plustrige Dreiertakt-Hymne, in der Morrissey sich selbst als frisch Inkarnierten feiert und alles Gerede von seiner „schwierigen Kindheit“ den Blah-Blah-Historikern überlässt.

Hatte schon das Vorgänger-Album „You Are The Quarry“ 2004 nach Jahren mittelprächtiger Solo-Existenz den Charakter glamouröser Rückkunft, ist „Ringleader of the Tormentors“ doch noch besser geworden. Abwechslungsreicher, unterhaltsamer, differenzierter im Sound, das manierierte Pathos mit gelegentlicher, feinsinniger Grinsegesichtigkeit in Wort und Klang subtil brechend. Viel vom Gelungenen auf „Ringleader“ geht wohl auch auf die Rechnung des jahrzehntelangen Bowie-Produzenten Tony Visconti, der aus der beleidigten Leberwurst Morrissey eine strahlende Heilandsfigur herausgekitzelt hat.

Nicht mehr länger ist Morrissey nämlich nur derjenige, der als verschliert jammerndes Opferlamm exemplarisch für uns alle leidet – ab jetzt bietet er sich als das Subjekt an, dem wir ultimatives Genießen unterstellen dürfen. Wir können das Ausleben aller Begehrlichkeiten, zu denen wir entweder keine Zeit oder keinen Mumm haben, einfach an Saint Morrissey delegieren. Und der macht seine kathartische Sache für uns so richtig gut, und nach spätestens 50 Minuten interpassivem Großpop-Konsum haben wir einfach nur verdammt bereinigt gute Laune.

Morrissey: „Ringleader of the Tormentors“ (Attack/Sanctuary)