Christopher Street Day in Berlin: Ausstellung des Furcht-erregenden
Trotz Querelen in der schwullesbischen Community bleibt die Berliner CSD-Parade ein wichtiges politisches Statement, meint unser Autor.
Vor 35 Jahren wussten selbst die allermeisten politisch sich verstehenden schwulen Männer nicht, was das Wort Stonewall bedeutet. Man briet sich allzu stark im eigenen Saft, verlor sich in Identitätsdebatten – Bin ich Leder, Tunte, Anzugträger oder was? – und hatte eher geringen Sinn für die bürgerrechtlichen Aufstände von US-amerikanischen Transen und Schwulen in einer New Yorker Bar, die sie anzettelten, weil sie keine Lust auf Razzien ihrer Lokale hatten. Diese Bar, die noch heute in Manhattan existiert und eher nicht mehr so der Hot Spot unter den Homokneipen ist, heißt „Stonewall“.
Dort begann das, was man als Geburtsakt der modernen Schwulenbewegung versteht. Die Zäsur von damals ließe sich so beschreiben: Nicht mehr die (heterosexuellen) Peiniger um weniger schlechte Behandlung anbetteln – sondern kämpfen. In eine souveräne Position kommen.
Der erste deutsche CSD war ein – man wusste voneinander nicht – zweigeteilter. Der eine fand in Berlin statt, der andere in Bremen. Das war 1979. Seither müht sich die deutsche Schwulen-, besser die: Queerbewegung um öffentliche Präsenz über das Szeneastische hinaus. In Berlin sind die CSDs über die Jahre, nicht allein durch die Aidskrise in den mittleren Achtzigern, aber deshalb natürlich auch, zu Massenumzügen geworden.
Seither sind, politisch gesprochen, massive Geländegewinne im öffentlichen Raum erzielt worden – und sie fielen der CSD-Bewegung nicht in den Schoß. Dass die Bezirksrathäuser die Regenbogenflaggen zur queeren Saison tragen, ist nicht als weltgeistige Geste vom schönen hauptstädtischen Himmel geweht, sondern musste errungen werden. Man erkennt das beinharte Streiten besonders dann, wenn wieder WM ist oder EM: Dann findet der Bezirk Mitte es immer wieder schwierig, einen CSD dort enden zu lassen – aus Rücksicht auf die Gastromeile des Public Viewing zu den (heterosexuell imaginierten) Sportereignissen. Wenn Deutschland spielt, müsste die Sache des Regenbogens zurückstehen – wird selbstverständlich angenommen.
Dass ein CSD ein politischer Umzug ist, dass er es an sich und nicht erst dann ist, wenn politische Fragen anderer Sphären (Energie, Linkssein an sich, Migration, Rassismus, Wohnungsnot etc.) beigemengt sind – etwa wie einst beim Transgenialen CSD e. V. in Kreuzberg: das ist offenbar, auch Linken, schwer zu vermitteln.
Man muss sich die Äußerungen von Rechten in Mitteleuropa anhören, man muss zur Kenntnis nehmen, was die politische Elite Russlands zu CSDs sagt: dekadent und verbotswürdig. In Moskau darf kein CSD stattfinden. Insofern ist jeder CSD in Berlin auch immer ein Marsch für das Recht auf sexuelle Selbstbestimmung, auf Schrillheit, auf Entäußerung, Dekadenz, auf die Ausstellung dessen, was sonst beschwiegen wird: die öffentliche Figur des Nichtheterosexuellen, des Anderen, Fremden und, ja auch, Furchterregenden.
Eine Kritik, die CSD-Demonstrationen wie auch in Berlin nur als Sauf- und Sexanbahnungsschlurferei abtut, fällt so gesehen auf sich selbst zurück: auf die Figur des Spießers, der sich politische Märsche nur als sittsam und freudlos vorstellen kann. Sie schöpft aus dem gleichen Modus des Ressentiments, aus dem sich auch die (vermeintlich) Antidekadenten wie Putin & Co bedienen: Man hüstelt und röchelt vor Entsetzen, weil Schwule und Lesben und Trans* und Inter nichts mehr beanspruchen als Aufmerksamkeit für das, was politisch die wichtigste Sache ist. Dass es noch keine Rechtsgleichheit gibt, beispielsweise. Wie man an allen Putins dieser Welt erkennen kann: Erst Rechte machen ein gutes Leben sicherer als ein rechtloses. CSDs sind, nach dieser Logik, Märsche der Freiheit. Wer sie verachtet oder für unnötig hält, ist politisch objektiv die Rechte, die Rechtspopulisten stärkend.
Welcher Zwist die CSD-Orga-Community in Berlin auch immer beschäftigt: Dass diese Paraden stattfinden, ist allein wichtig.
■ Der Autor war von 2003 bis 2008 der politische Koordinator des Berliner CSD e. V. Er schreibt seit ewigen Zeiten zu queerpolitischen Fragen, meist in der taz.
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