Christian Petzolds neuer Film „Phoenix“: Aus dem Reich der Toten
In „Phoenix“ überlebt eine Frau das KZ. Und Regisseur Christian Petzold sucht nicht nach irgendwie anständig gebliebenen deutschen Figuren.
Wer sich mit Kino befasst, kommt an einem zentralen Begriffspaar nicht vorbei: champ und hors champ. Gemeint ist mit champ dasjenige, was im Bild ist, und mit hors champ dasjenige, was jenseits des Bildes ist, zum Beispiel eine Figur, die nicht zu sehen ist, aber von der im Bild sichtbaren Figur angesprochen wird.
Das eine kann in das andere hineinlappen, wenn etwa die Stimme der abwesenden Figur zu hören ist oder wenn die Figur im Bild auf etwas blickt, was sich jenseits des Bildausschnitts befindet. Oft ist es der Anblick von etwas Schreckenerregendem; dem Zuschauer bleibt er erspart, während die Filmfigur wie eine Stellvertreterin hinschaut. Man sieht das Grauen indirekt, als Widerschein auf dem Gesicht desjenigen, der es betrachtet.
Am Anfang von Christian Petzolds neuem Film „Phoenix“ findet sich ein Beispiel hierfür, als ein Soldat der US-Armee an einem Kontrollposten einen Wagen anhält. Es ist Nacht, der Ort eine Brücke irgendwo in Deutschland, der Zeitpunkt der Sommer 1945. Zwei Frauen sitzen in dem Wagen, Mullbinden umwickeln den Kopf der Beifahrerin.
„Zeigen Sie mir Ihr Gesicht“, befiehlt der Soldat der Bandagierten. Die Fahrerin versucht, die Order abzuwehren, indem sie erklärt, die Frau neben ihr sei in einem Konzentrationslager gewesen. Nachdem der Soldat mehrmals insistiert hat, nimmt die Beifahrerin den Verband ab. Man sieht ihr Gesicht nicht, weil die Kamera sich ihm nicht zuwendet. Stattdessen sieht man, wie Entsetzen das Gesicht des Soldaten befällt, und man hört seine hastige Entschuldigung.
Opportunismus der Nachkriegszeit
Es gibt noch mehr Szenen in „Phoenix“, in denen etwas hors champ bleibt, etwa eine ärztliche Untersuchung, bei der man die Diagnose hört, während die Patientin mit dem entstellten Gesicht jenseits des Bildrandes sitzt. Wie sie denn aussehen möchte, nach der Operation, fragt der Chirurg. „Wie Zarah Leander? Oder wie die Söderbaum?“
Ein Fauxpas, der ihm bewusst wird, kaum hat er ihn begangen; denn beide Schauspielerinnen sind als Schönheitsideal passé, weil sie sich der NS-Unterhaltungsindustrie angedient haben. Ein wenig zu jovial korrigiert sich der Arzt, man erhält dabei eine Ahnung vom Opportunismus der Nachkriegszeit. Seine Patientin hat ohnehin andere Vorstellungen: „Ich möchte genauso aussehen wie früher.“
Nach der Operation kommt unter dem Verband das Gesicht von Nina Hoss zum Vorschein, und die Figur, die sie spielt, heißt Nelly. Nelly kehrt in ein Deutschland zurück, das nicht willens ist, auch nur wahrzunehmen, was in den Lagern geschehen ist. Nelly bewegt sich wie eine Wiedergängerin, sie geistert durch den Film wie ein Gespenst. Darin ähnelt sie der ebenfalls von Nina Hoss gespielten Protagonistin in Petzolds Film „Yella“ (2007).
Nellys Begleiterin, Lene (Nina Kunzendorf), macht einen geerdeteren Eindruck, sie ist sich sicher, dass die Zukunft nicht in diesem Deutschland liegt, in dem die Täter überall sind, und plant die Auswanderung nach Palästina. Nelly dagegen sucht in den Ruinen Berlins nach ihrem Ehemann, Johnny, und findet ihn in einer Bar mit dem sprechenden Namen Phoenix.
Soweit die Exposition. Was folgt, bedarf der Bereitschaft zur suspension of disbelief. Denn Johnny (Ronald Zehrfeld) erkennt seine Frau nicht, weil er sie für tot hält. Nur eine Ähnlichkeit nimmt er wahr, und daraus spinnt er einen finsteren Plan: Nelly möge sich als seine Frau ausgeben, damit er an die Erbschaft herankomme, am Gewinn werde er seine Komplizin beteiligen. Statt zu protestieren und ihre Identität zu offenbaren, nennt sich Nelly Esther und lässt sich auf das Szenario ihres Mannes ein: Sie spielt eine Version ihrer selbst, ganz wie es das Script Johnnys vorsieht.
Nie war die Gesellschaft freier, die Möglichkeit zur Selbstverwirklichung größer. Doch viele macht das nicht glücklich, sondern panisch. Im Job und in der Liebe. Der Soziologe Heinz Bude in der taz.am wochenende vom 20./21. September 2014. Außerdem: Eine Reportage über verschleppte Kinder im Bürgerkrieg in El Salvador, die als Erwachsene ihre Eltern wiederfinden. Und: Wie eine Initiative in Peru Elektroschrott umweltverträglich entsorgt. Am Kiosk, eKiosk oder gleich im praktischen Wochenendabo.
Dabei ahnt sie wohl, dass ihn eine Mitschuld an ihrer Verhaftung trifft; eine Konstellation, die aus Petzolds „Barbara“ (2012) vertraut ist. Auch darin sickerte in die Beziehung der von Ronald Zehrfeld und Nina Hoss gespielten Figuren der Verrat ein. Die Ahnung hält Nelly nicht davon ab, die Rolle in Johnnys Szenario einzunehmen, und je länger sie mitspielt, umso mehr beginnt man zu verstehen, dass auch sie einen Plan verfolgt.
Anleihen an Hitchcock
Wie bei den vorangegangenen Arbeiten Petzolds hat der im Sommer verstorbene Essayfilmer Harun Farocki am Drehbuch mitgewirkt, und so wie die früheren Arbeiten unternimmt auch „Phoenix“ eine Relektüre existierender Filme. In diesem Fall verweist die Eröffnungssequenz – die Fahrt durch tiefschwarze Nacht, zwei Frauen im Wagen, die eine der beiden unter Bandagen versteckt – auf den französischen Thriller „Les yeux sans visage“ von Georges Franju (1960), und Alfred Hitchcocks „Vertigo“ (1958) erzählt die Geschichte vom Mann, der eine vermeintlich Tote in Gestalt einer vermeintlich anderen Frau zum Leben erwecken möchte.
Im übertragenden Sinne bilden diese Bezüge eine Art hors champ zu „Phoenix“. Denn die düsteren Thriller jener Jahre, die Film Noirs mit ihrem nihilistischen Blick auf die Conditio humana, handeln zwar nicht explizit von den Erfahrungen des Zweiten Weltkriegs und der Konzentrationslager, aber in ihrer Illusionslosigkeit und ihrer Schonungslosigkeit sind sie eine Reaktion darauf, eine Deckerzählung, die den Umweg über das Genre wählt.
„Phoenix“ eignet sich Motive aus Genreerzählungen an und lässt sie in einem Rahmen wiederauferstehen, der dem diffus bleibenden Hintergrund von Schrecken, vor dem sich die Genreerzählungen bewegten, Konturen gibt, ihn rekonkretisiert. Petzold gibt dem Film Noir jene realistische Ebene zurück, die er zu seiner Entstehungszeit nur implizit behandelte. Er nimmt ihm die Bandagen ab und zeigt das Antlitz unter der Deckerzählung, die Ruinen von Berlin, die Verzweiflung und die Heimatlosigkeit derer, die die Verfolgung überlebt haben, die Abwehr und die Empathielosigkeit der Deutschen.
Und er doppelt all dies im Parcours seiner Hauptfigur, darin, wie sie, um wieder sie selbst zu werden, einen Umweg gehen und eine Version ihrer selbst spielen muss. Denn in dem Maße, wie Johnny Nelly in sein Szenario presst, wie er sie benutzt, um an die Erbschaft zu kommen, in dem Maße instrumentalisiert Nelly den Plan ihres Ehemanns für sich. Dadurch, dass er sie dazu bringt, in ihre frühere Identität hineinzuschlüpfen wie in eine Rolle, kann sie die gespenstische Existenz der Entkommenen hinter sich lassen und sich selbst rekonstruieren. Ob sie sich mit ihrem eigenen Szenario selbst betrügt oder nicht, schenkt dem Film die suspense.
Ein harter Blick auf den Nationalsozialismus
In seiner Konstruktion ist „Phoenix“ ein beeindruckend kluger Film, dem man zudem hoch anrechnen muss, dass er einen harten, die Deutschen nicht schonenden Blick auf den Nationalsozialismus wirft. Anders als so viele Geschichtsmovies der letzten Jahre sucht Petzold nicht nach irgendwie anständig gebliebenen deutschen Figuren oder nach Nachkriegsopfererzählungen, wie sie gerade Rick Ostermanns „Wolfskinder“ durchspielt.
Die Klarheit, mit der „Phoenix“ die Möglichkeit einer Liebe zwischen einem nichtjüdischen Deutschen und einer jüdischen Deutschen verwirft, macht es unmöglich, die NS-Verbrechen aus den Augen zu verlieren. Es ist etwas Fundamentales geschehen, und dem muss man sich stellen. Nicht umsonst ist der Film Fritz Bauer gewidmet, dem Remigranten, der als erster Staatsanwalt in Westdeutschland dafür sorgte, dass Naziverbrecher vor Gericht gestellt wurden.
Wenn „Phoenix“ aller Klugheit zum Trotz ein gewisses Unbehagen auslöst, dann liegt dies in dem Kontrast begründet, der sich zwischen der künstlichen Anordnung und der Kontrolliertheit des Films ergibt. Im Vergleich zu einem anderen Film, der von der unmöglichen Liebe eines nichtjüdischen Deutschen zu einem jüdischen Deutschen handelt, wird dies deutlich. Rainer Werner Fassbinders „In einem Jahr mit 13 Monden“ (1978) folgt einem ähnlich aberwitzigen Erzählarrangement wie Petzolds Film: Erwin (Volker Spengler) lässt sich zu Elvira Weißhaupt umoperieren, damit der jüdische Deutsche Anton Saitz, gespielt vom kürzlich verstorbenen Gottfried John, seine bzw. ihre Liebe erwidert. Doch Saitz lässt Elvira auflaufen, was sie in die Verzweiflung treibt.
Der Unterschied zu „Phoenix“ ist, dass Fassbinder den Aberwitz der Plot-Konstruktion in seiner Mise en Scène melodramatisch verstärkt. Seine Fiktion ist flamboyant, inkommensurabel, etwa wenn Elvira aus Goethes „Torquato Tasso“ zitiert, während sie durch einen Schlachthof schreitet und Rinderkadaver das Bild füllen. Fassbinder hat keine Angst vor dem Überschuss, der Entgleisung, der Geschmacklosigkeit. „Phoenix“ dagegen bleibt von der ersten bis zur letzten Minute kontrolliert. Nichts schießt quer in Petzolds makelloser Konstruktion, nichts schießt über, es gibt keinen Rest, und es ist, als lähmte das Bedürfnis, alles richtig zu machen, den Film.
Hinzu kommt, dass das Spiel mit dem, was hors champ und was champ ist, bisweilen die Eleganz verliert. Manches wird an den Dialog delegiert, als wäre man in einer didaktisch konzipierten TV-Sendung. Besonders der Nebenfigur Lene fällt die undankbare Aufgabe zu, auszusprechen, was man längst begriffen hat, etwa, wie unmöglich es für Juden ist, sich in Deutschland niederzulassen. Zum Dank dafür bekommt sie eine exquisite Garderobe und einen jähen Abschied aus dem Film, ein hors champ der unfairen Art.