Christian Kracht liest in Blankenese: Ein Abend in der Überflussgesellschaft
Bei Christian Krachts Lesung in Hamburg versammelt sich halb Blankenese zu Andacht und ironischer Selbstbeschau – ausgerechnet im Haus des Herrn.

W as für ein Sonntag! Vor der Blankeneser Kirche stehen die Menschen Schlange. Der herrschende Andrang gilt aber keinem Gottesdienst, sondern einer Lesung. Der Schweizer Schriftsteller Christian Kracht liest aus seinem neuen Roman „AIR“. Die Kirche ist bis auf den letzten Platz besetzt, die Stimmung der 650 Menschen erwartungsvoll gedämpft. Gesungen wird heute nicht.
Der Vorleser Kracht, in Barbourjacke mit einem karierten Schal um den Hals, ist ein unprätentiöser, leise sprechender Mann. Er findet immer wieder hinein in seinen Text, auch wenn er sich manchmal verhaspelt und sogleich korrigiert. In der Kirche ist es andächtig still. Gelobt sei ein Event ohne Smartphone-Einsatz.
Kracht kann weglassen. Von den 17 Kapiteln des Romans hören wir Kapitel 1, 3, 5 und 7. Es sind jene Passagen, die von dem erfolgreichen Dekorateur Paul und seinem neuen Auftraggeber Cohen handeln. Und Kracht kann sich auf seinen Text verlassen. „Er trug prinzipiell keinen Fahrradhelm, da er diese stromlinienförmigen, bunten Monstrositäten rigoros ablehnte.“ Da müssen alle lachen in der Kirche.
Auch als Paul seine Regeln des home staging postuliert: „alle Lampen [mussten] immer an sein, auch tagsüber, und es mussten immer alte Glühbirnen verwendet werden, niemals Energiesparlampen.“ Der asketisch lebende Paul geißelt die Überfluss-, die Dunstabzugshauben- und Fußbodenheizungsgesellschaft. Hier im Hamburger Westen ist sie versammelt.
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Der Einzelgänger Paul lebt in der Peripherie, in einem karg eingerichteten Haus am Meer. Das Polarlicht wird hier zum Gleichnis für einen Menschen, der sich selbst gleichgültig wird: „Aufschimmern und wieder verschwinden. Er sah hinaus zu den grünen wabernden Vorhängen des Polarlichts vor dem Fenster, über dem Hafen am Himmel, die ihm anfangs, als er hierher auf die Orkney-Inseln gezogen war, noch wie ein Wunder erschienen waren.“
Doch „der grüne Vorhang aus Licht oben am Rande des Himmels“ ist Paul inzwischen egal. Kracht räumt das Naturwunder ab, aber auch den Eskapismus minimalistischer Lebensführung. Er lässt das Bewusstsein seiner Figur flirren, alles ist Erscheinung, nichts Realität. Platons Höhlengleichnis grüßt.
Heidegger lässt Grüßen
Paul, der Loner, richtet leere Wohnungen derart geschickt ein, dass sie sich gut verkaufen lassen. Für sich ersinnt er eine neue Zuflucht, ein Haus ohne Strom und jeden Komfort. Dasein und Design trennt nur ein Laut. Wie gut, dass es Experten für die Leere gibt.
Als „Eurotrash“ 2021 herauskam, hat Kracht in einem Interview gesagt, in all seinen Romanen gebe es eine bestimmte Stelle, in der sich der Erzähler vor einem Spiegel wiederfinde. Oft sei es ein Doppelspiegel, in dem sich das gespiegelte Bild in der Unendlichkeit verliere. Sein Protagonist Paul in „AIR“ ersehnt eine solche unendliche Spiegelung. Er möchte „in der Zeit verschwinden, dann müsste er auch nicht ewig durch den Raum streifen, auf der Suche nach was eigentlich?“ Martin Heidegger lässt grüßen.
Paul will Sein und Zeit und Raum überwinden. Ein neuer Auftrag im norwegischen Stavanger gibt seiner Sinnfrage einen AI-Spin. Er soll für das Innere eines gigantischen Bunkers das absolute, das perfekte Weiß erschaffen. Dort lagern, von Fjordwasser gekühlt, Trillionen von Nachrichten und die täglich von uns produzierten 5 Milliarden Fotos. Wenn all diese Daten nach unserem Tod weiter bestünden, dann wäre dieser „Weltspeicher des kollektiven Gedächtnisses“ unser ewiges Leben! „AIR“ heißt ja auch: As I Remember.
Was können wir dem Tod entgegensetzen? Christian Kracht umkreist in „AIR“ diese bedrängende Frage so intensiv wie Max Frisch in seinem Meisterwerk „Der Mensch erscheint im Holozän“. Es ist auch die Frage jeder Religion. „Aber er war nicht mehr da.“ So lautet der letzte Satz über Paul an diesem Abend. Krachts Kirchenlesung bietet der Blankenese Gemeinde durchaus eine Offenbarung – es ist die von der verstörenden Kraft guter Literatur.
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