Chris-Marker-Retrospektive: Der wahre Blick
Chris Marker hat gefilmt, fotografiert und Installationen entwickelt - den Zuschauerblick im Visier. Das Museum für Gestaltung Zürich widmet ihm eine Retrospektive.
Der Franzose Chris Marker gehört zusammen mit Jonas Mekas oder Jean-Luc Godard zu den großen Essayfilmern des 20. Jahrhunderts. Einige seiner Werke, "Le joli mai" (1963) oder "Sans soleil" (1983), die der Tradition des Cinéma Vérité verpflichtet sind, gelten längst als Klassiker. Die gleichermaßen politischen wie poetischen Manifeste allein begründen aber noch nicht den Ruf des außerordentlichen Künstlers. Seit seinen Anfängen hat sich Christian François Bouche-Villeneuve, so der bürgerliche Name des 1921 bei Paris geborenen Kosmopoliten, unterschiedlicher dokumentarischer Mittel bedient. Er ist Autor, Fotograf, Medienkünstler, Publizist - ein Reisender zwischen den Kontinenten wie den medialen Ausdrucksformen.
Erstmals in Europa erlaubt das Museum für Gestaltung Zürich jetzt, das Oeuvre des Avantgardisten in seiner ganzen Bandbreite zu entdecken. Unter dem programmatischen Titel "Chris Marker - Abschied vom Kino" versammelt die Ausstellung fotografische, elektronische und multimediale Arbeiten aus sechs Jahrzehnten. Für den ersten Teil der Schau hat Marker 200 Fotografien aus dem eigenen Bilderfundus zusammengetragen; es sind Porträts von Menschen, denen er während Dreharbeiten oder auf Reisen nach Afrika, Asien und durch das östliche Europa begegnet ist, sowie von Freunden wie Andrej Tarkowsky oder Joris Ivens. Die Aufnahmen - Fotografien, Film- und Videostandbilder - hat er digital bearbeitet und in Schwarzweiß ediert.
Unter der Überschrift "They stare" schauen uns Menschen aus allen Erdteilen an, lächeln, sind nachdenklich oder überrascht. Die Bilder zeugen von der Selbstvergessenheit, die von Marker in "Sans soleil" als der wahre Blick beschrieben wurde, "ganz direkt, der eine Fünfundzwanzigstelsekunde dauert, so kurz wie ein Bild". Schräg gegenüber an der Wand, die den Ausstellungsraum diagonal schneidet, regiert eine andere Erfahrung: Fidel Castro, den Blick in den Wolken, entzieht sich der Kamera ebenso wie eine namenlose Frau im Profil, die an einem Grabstein trauert. Der Titel "Stare 2", der lautmalerisch gelesen werden darf, bringt die Selbstreflexion des Fotografen zum Ausdruck, der sich der Fragilität des Blicks bewusst ist: für die gelungene Begegnung braucht es immer eine Übereinstimmung von Beobachter und Beobachteten.
Gleich neben den verinnerlichten Gesichtern hängen Stills von den Pariser Demonstration gegen den Algerienkrieg 1962 und von Studentenprotesten aus dem Jahre 2002, die das gesellschaftliche Engagement Markers unterstreichen. Die Bilder sind so arrangiert, dass die revoltierenden Jugendlichen die Porträtierten anzuschauen scheinen. Geschickt lässt die Ausstellungsarchitektur so die Masse in einen Dialog mit dem Individuum treten, Europa mit Übersee - und vollzieht räumlich Markers politisch-ästhetisches Bewusstsein nach. Sein Selbstverständnis ist geprägt von der Kolonialgeschichte Frankreichs, dem Aufbegehren gegen Rassismus und der Notwendigkeit der internationalen Solidarität.
Der zweite Teil der Ausstellung, die vor einem Jahr im Wexner Center of the Arts, Ohio, zu sehen war, führt Marker als Multimediakünstler vor. Neben der Reisebuch-Reihe "Petite Planète", deren Herausgeber er von 1954 bis 64 war, und der CD-ROM "Immemory" (1997), in der er die Erinnerungsarbeit seiner Essayfilme digital weiterentwickelte, bevor er sich den Computerspielen zuwenden sollte, stechen die Installationen "Silent Movie" (1995) und "Owls at Noon Prelude: The Hollow Men" (2005) ins Auge. Die erste Arbeit, die aus Anlass des 100. Geburtstages des Kinos entstand, besteht aus fünf aufeinandergeschichteten Monitoren, der jeder für sich in Endlosschlaufen animierte Filmstills und Zwischentitel zeigt - eine filigrane Hommage an den Stummfilm, die wie eine Stele in den Himmel ragt. Die zweite, die von T. S. Eliots Gedicht "The Hollow Men" über die Schrecken des Ersten Weltkrieges inspiriert ist, umfasst acht nebeneinander montierte Bildschirme, auf denen sich Bilder, die teilweise aus Markers Archiv stammen, Buchstaben- und Wortfetzen zu einem suggestiven Totengebet fügen.
Beide Kunstwerke zeugen von Markers ästhetischer Klarheit, mit dem formalen Prinzip der Schichtung und der Abfolge bedienen sie sich aber auch urfilmischer Gestaltungselemente. Wie bei den Fotografien besinnt sich der 86 Jahre alte Künstler auch bei den Installationen auf sein ursprüngliches Material, verwertet es in neuen medialen Kontexten, verändert und verfremdet es - und überführt das dynamische Medium Film in den statischen Raum des Museums. In dem Wechsel von Aggregatzuständen zwischen bewegtem Film und unbewegtem Standbild liegt denn auch die ebenso beglückende wie melancholische Botschaft der Ausstellung begründet. Sie leistet Gedächtnisarbeit im doppelten Sinne - an der Geschichte des Films wie am persönlichen Werk. Beides meißelt der Filmregisseur im übertragenen Sinn in Stein. Tatsächlich: Marker ist im Museum angekommen, es ist ein Abschied vom Kino.
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