Chris Hipkins neuer Premier in Neuseeland: Auf Ardern folgt „Kampfhund“
Nach dem Rücktritt der neuseeländischen Premierministerin Ardern bestätigt die Labourpartei Hipkins als neuen Regierungschef.
Der in der Hutt-Region in der Nähe der Hauptstadt Wellington aufgewachsene 44-jährige Politologe und Kriminologe ist den Neuseeländern wohl bekannt. Er war im Kabinett von Premierministerin Jacinda Ardern für die Umsetzung und Durchsetzung der strikten Anti-Covid-Maßnahmen verantwortlich. Die Quasi-Abriegelung des Inselstaates von der Außenwelt sowie harte Ausganssperren werden von Experten für eine vergleichsweise niedrige Opferrate verantwortlich gemacht.
Seine Stellvertreterin wird die 46-jährige Carmel Sepuloni. Die zukünftige Vize-Premierministerin hat samoanisch-tongaische Wurzeln.
Hipkins war 2008 ins Parlament gekommen – zur selben Zeit wie Ardern. Unter ihrer Führung hielt er Ministerämter in den Bereichen Bildung, Polizei und öffentlicher Dienst und war zeitweise Parlamentsvorsitzender.
„Zuverlässig und intelligent“
Der Soziologe Grant Duncan von der Massey Universität in Wellington meinte am Sonntag, der einstige Studentenaktivist, der sogar einmal bei einem Protest verhaftet worden war, habe sich während der Pandemie „als fleißige und kompetente Führungspersönlichkeit ausgezeichnet, die eine dringend benötigte Klarheit und gesunden Menschenverstand einbrachte. Er ist ein zuverlässiger und intelligenter Politiker, dem es nichts ausmacht, ein Kampfhund zu sein, wenn es nötig ist.“
Ardern hatte vergangene Woche für den 14. Oktober Neuwahlen ausgerufen. In den Meinungsumfragen steht die Laborpartei hinter der oppositionellen konservativen Nationalpartei, die von Christopher Luxon geführt wird, einem ehemaligen Führungsmitglied des Industriekonzerns Unilever und späteren Unternehmenschefs der Fluglinie Air New Zealand.
Hipkins muss nun die Öffentlichkeit davon überzeugen, Lösungen für eine Vielzahl von Problemen finden zu können, unter denen das Land leidet – insbesondere deutlich gestiegene Lebenshaltungskosten, ein extremer Mangel an bezahlbarem Wohnraum, Kinderarmut, Ungleichheit und die eskalierende Klimakrise.
Laut Duncan stehe dem Politiker ein „schwerer Kampf“ bevor. Nicht zuletzt, weil ihm das Charisma seiner Vorgängerin fehle, die vor allem im Ausland als Vorreitern für Frauen in der Politik gefeiert wurde.
„Jacindamania“-Effekt fehlt Hipkins
Ardern wurde 2017 mit 37 Jahren jüngste Premierministerin der Geschichte. „Als sie damals den Parteivorsitz übernahm, gab es einen sofortigen „Jacindamania“-Effekt, und die Umfragewerte von Labour stiegen in die Höhe. Eine „Chris-Manie“ kann man sich jedoch nicht vorstellen“, so der Politologe.
Seit Ardens Ankündigung ihres Rücktritts wurde in verschiedenen Medien die Behauptung lauter, die Premierministerin habe nicht aus familiären Gründen den Entscheid getroffen, sondern aus Angst vor einer bevorstehenden Wahlschlappe. Der konservative australische Fernsehsender Sky News meinte, die Politikerin sei ein „Aushängeschild“ für „Linke und Feministinnen auf der ganzen Welt gewesen“, habe aber die nötige Leistung nicht gebracht, wenn es darauf ankam.
Nicht zuletzt für ihre wirtschaftlichen Leistungen erhält Ardern aber auch von unerwarteter Seite Unterstützung. Die konservative Tageszeitung Australian Financial Revue lobt ihren Umgang mit dem Haupthandelspartner China. So habe sie sich nicht der populistischen Politik ihres früheren konservativen australischen Amtskollegen Scott Morrison angeschlossen und Peking quasi vorgeworfen, es habe Corona in einem Labor entwickelt. China reagierte auf diesen Affront mit Handelsboykotten gegen australische Produkte. „Wieso wegen eines unlösbaren Problems ohne offensichtlichen strategischen Nutzen Milliarden in jährlichen Exporten an ihren engsten Handelspartner riskieren?“, schreibt die Zeitung.
Auch sei der neuseeländische Aktienmarkt während Ardens Amtszeit um 70 Prozent gestiegen, während der australische im selben Zeitraum nur um 28 Prozent zulegte.
Richard Shaw, Politologe
Herausforderungen und Beschimpfungen
Der neuseeländische Politologe Richard Shaw meint, Ardern habe zwar vieles nicht erreicht. „Sie kam mit dem Versprechen an die Macht, das Land zu verändern, aber Ungleichheit und Armut sind nach wie vor wunde Punkte in der Politik.“ In ihrer fünfjährigen Amtszeit habe sie aber „mehr als genug mit Herausforderungen zu kämpfen gehabt: einem Terroranschlag in Christchurch, einem Vulkanausbruch auf White Island, einer globalen Pandemie und zuletzt einer Lebenshaltungskostenkrise“.
Gleichzeitig sei sie wie andere Politikerinnen auch „einer ständigen Flut von Beschimpfungen im Internet und persönlich ausgesetzt gewesen – von Anti-Vaxxern, Frauenhassern und anderen, die sie einfach nicht mögen“. Ardern habe die letzten zwei Jahre „an vorderster Front mit dieser Art von Toxizität verbracht“. Das habe seinen Tribut gefordert, so Shaw, „bei ihr, ihrer Familie und den Menschen, die ihr nahestehen“. Dies habe eine Rolle bei ihrer Entscheidung gespielt, vom Amt zurückzutreten.
Am meisten in Erinnerung bleiben werde den Menschen jedoch die Art und Weise, wie Ardern auf schwere Krisen reagiert hatte, meint Shaw. „In den meisten Fällen mit Ruhe, Würde und Klarheit.“ Ihre Weigerung, sich auf die Rhetorik der Beschimpfung oder Verunglimpfung einzulassen, die zum Handwerkszeug allzu vieler gewählter Vertreter geworden sei, habe sie hervorgehoben in einer Welt, in der Beschimpfungen in der Politik normal geworden seien. Nur einmal, stellt Shaw fest, habe sie das Prinzip der Höflichkeit gebrochen – als sie kürzlich im Parlament einen Abgeordneten der Opposition als „arrogantes Arschloch“ bezeichnete.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
James Bridle bekommt Preis aberkannt
Boykottieren und boykottiert werden
Hype um Boris Pistorius
Fragwürdige Beliebtheit
Russischer Angriff auf die Ukraine
Tausend Tage Krieg
G20-Gipfel in Brasilien
Milei will mit Kapitalismus aus der Armut
Verfassungsklage von ARD und ZDF
Karlsruhe muss die unbeliebte Entscheidung treffen
Virale „Dubai-Schokolade“
Dabei sein ist alles