Choreografie zu Vivaldi: Zu Zeiten out of control
Vom Zerbrechen der „natürlichen“ Ordnung erzählt ein Tanzstück von Anne Teresa De Keersmaeker und Radouan Mriziga. Deutschlandpremiere war in Berlin.
Die Choreografie stammt von Anne Teresa De Keersmaeker und Radouan Mriziga. Ihr Stück „Il Cimento dell’Armonia e dell’Inventione“ (Der Prozess der Harmonie und der Erfindung) hatte in Brüssel Premiere und wurde nun im Haus der Berliner Festspiele, einem von vielen Co-Produzenten, an zwei Abenden gespielt und tourt nun weiter durch Europa.
Radouan Mriziga, 1985 in Marokko geboren, ist eine Generation jünger als De Keersmaeker und hat an der von ihr gegründeten Choreografen-Schmiede P.A.R.T.S in Brüssel studiert. Gemeinsam haben sie sich den Zyklus der flirrenden Violinkonzerte „Die vier Jahreszeiten“ von Antonio Vivaldi vorgenommen. Klassischen Musikstücken einen neuen Rezeptionsraum zu schaffen, der ihre Abnutzung vergessen lässt, ist eine der Stärken von De Keersmaeker.
Der Bühnenraum ist extrem nüchtern, begrenzt von dunklen Wänden, gegliedert von Neonröhren. Anfangs flackern sie rhythmisch, bevor der Tanz beginnt. Es ist eine kalte und künstliche Welt, fern der Natur. Und es ist sehr lange und oft still in diesem Bühnenraum, die Musik begleitet den Tanz nur abschnittsweise. Über lange Passagen hinweg kommen Takt, Rhythmus und Phrasierung allein aus der Bewegung der Tänzer.
Boštjan Antončič beginnt mit einem Solo in dämmerndem Licht. Die lyrischen und gedehnten Bewegungen, die ausdrucksstarken Armgesten, das Hinaussehnen in eine unbekannte Weite unterbricht er für Momente mit aufstampfenden Füßen und profanen Schritten.
Durchkreuzen der Erwartung
Dieses Durchkreuzen einer Bewegungssprache, das Aufbrechen der Spannung und Erwartung, die sie beim Zuschauenden erzeugt, zieht sich durch die Choreografie. Sie ist bewusst nicht aus einem Guss. Erfindungsreicher Breakdance ist zu erleben, eine komödiantisch aufgeladene Tapdance-Nummer, Sport und Competition blitzen auf, Urban Dance und zeitgenössisches Ballett verbinden sich.
Das ist nicht nur abwechslungsreich, sondern steht oft auch in einem Spannungsverhältnis zur Musik von Vivaldi. Nur in einigen Passagen trägt sie die Tänzer, lassen sie sich von ihren Wirbeln in Kreise und Drehungen spülen, eins mit ihrer Umgebung, die Harmonie genießend. Meist aber ist das, was die Körper erzählen, eine eigene Geschichte, die vor und nach dem Musikeinsatz weitergeht.
Die vier Tänzer Boštjan Antončič, Nassim Baddag, Lav Crnčević und José Paulo dos Santos können sich in diesem Konzept auch in ihrer Individualität entfalten. Nassim Baddag, der sich nicht nur auf den Füßen, sondern vor allem auch auf dem Kopf und den Händen dreht und über die Schulter rollt, bezaubert durch die Weichheit und Zartheit in diesem artistisch herausfordernden Streetdance-Stil. Lav Crnčević unterlegt seine höchst romantischen Gesten, das taumelnde Glück in Spiralen und Pirouetten mit einem leicht ironischen Unterton – und manchmal bellt er ein bisschen. José Paulo dos Santos packt in seine bockbeinigen Sprünge am meisten von der Energie eines Fußballers.
Der Zyklus der „Vier Jahreszeiten“ beginnt hier mit Herbst und Winter und endet auch dort wieder. Der Sommer dazwischen endete mit Bildern der Betrunkenheit und des Torkelns, die Hosen um die Fußgelenke gerutscht, out of control. Der zweite Herbst beginnt verkatert. Dies ist keine Feier der Jahreszeiten mehr, ihr Zyklus nicht mehr der zuverlässige Lieferant einer Struktur.
Am Ende ist ein Gedicht von Asmaa Jama zu hören, eine trauernde Klage über das Ausbleiben der von der Erde selbst herbeigesehnten Jahreszeiten. Allein der Text zum Schluss ist mehr eine nachdenkliche Zugabe: In der vorausgegangenen Zeit wurde dies als Thema nicht besonders deutlich.
De Keersmaeker und Mriziga arbeiten mit einer Einspielung der Konzerte von Amandine Beyer und deren Ensemble Gli Incogniti. Schon durch die begrenzte Auswahl der Stücke und dem Gegenhalten der Stille bilden sie nicht mehr ein Kontinuum ab. Was dem Barock als „natürliche“ Ordnung galt, ist zerbrochen. Das nimmt man dann doch aus diesem Tanzabend mit.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
Starten Sie jetzt eine spannende Diskussion!