Chinesischer Germanist über Aufklärung: "Kant hat sich nicht getraut"
Die deutsch-chinesische Ausstellung "Kunst der Aufklärung" kommt nach Peking. Sie dürfte unterdrückte Debatten anstoßen, sagt der Germanist Huang Liaoyu.
taz: Herr Huang Liaoyu, eine Ausstellung unter dem Titel "Kunst der Aufklärung" kommt aus Deutschland nach Peking. Was verbindet man in China eigentlich mit der "Aufklärung"?
Huang Liaoyu: In China kennt jeder, der ein wenig gebildet ist, die Aufklärung. Wir lernen darüber im Marxismus-Unterricht. Für die Chinesen hat das Wort einen guten Klang.
Warum ist das so?
Wenn wir es hören, denken wir an den Glauben an die Wissenschaft und an den Fortschritt, an die Befreiung von der Feudalherrschaft, von der Herrschaft der Geistlichkeit und von kirchlichen Dogmen. So haben wir es gelernt: Aufklärung ist etwas, was sich in Europa entwickelte und gut war.
HUANG LIAOYU, geboren 1965, hat an der Peking-Universität studiert, über Thomas Mann promoviert und mehrere Werke ins Chinesische übersetzt, darunter Martin Walsers "Tod eines Kritikers" und "Ein liebender Mann", ebenso Sven Regners "Herr Lehmann".
Wie die Französische Revolution?
Natürlich! Und das Faustische, so wie Goethe es beschrieben hat: der Wille zur Welteroberung. Im Großen und Ganzen hat man in China ein positives und zugleich vereinfachtes Bild der Aufklärung. Als ich zum ersten Mal von der Ausstellung gehört habe, wunderte ich mich allerdings über den Titel: "Kunst der Aufklärung", das schien mir paradox zu sein.
Warum?
Normalerweise denken wir, Aufklärung sei eine Sache der Literaten und Philosophen. Aufklärerische Kunst, was ist das? Plakate? Bilder? Da bin ich sehr neugierig, ich will es mir unbedingt anschauen.
Aufklärung klingt im Chinesischen nach Befreiung?
… und nach Hinwendung zur Wissenschaft, Toleranz, Gleichheit. Eigentlich haben wir Chinesen gar keine Schwierigkeit, solche Begriffe zu akzeptieren und zu verstehen. Allerdings: In unseren Schulbüchern werden nicht alle Elemente der Aufklärung gleich betont - da ist wenig von der Freiheitsidee und der Bereitschaft zur Kritik zu lesen.
Sind das Ideen, die auch für China selbst debattiert werden? Oder werden sie nur als Teil einer fernen europäischen Epoche betrachtet?
Wir betrachten sie als Menschheitsideale. Dazu gehören auch die Vermehrung des Glücks der Menschheit und der Zukunftsoptimismus. Wie sie sich bei uns durchsetzen, das ist eine andere Sache.
Meinungs- und Pressefreiheit sind keine Tabus in China?
Man kann schon darüber debattieren. Am Ende heißt es gewöhnlich: "Pressefreiheit - eine feine Sache, aber das geht nicht so schnell, wir dürfen nichts überstürzen." Immerhin ist es doch gut, wenn darüber diskutiert wird. In China ist das ein aktuelles Thema. Alle hassen die Korruption. Da braucht man eine Kontrollinstanz. Eine bessere als die freie Presse gibt es gar nicht.
Diese Ausstellung und die begleitenden Seminare werden also Debatten anstoßen, die dann immer wieder eingeschränkt werden?
So war das einst auch in Deutschland. Erinnern Sie sich: Kant, der große Aufklärer, hat die Leute aufgefordert, alles zu kritisieren. Aber selbst hat er sich nicht getraut, die preußische Regierung und den König zu kritisieren! Vielleicht gibt es hier in China gerade eine ähnliche Situation.
Die jetzt beginnende "Kunst der Aufklärung" ist schon vor Jahren beschlossen worden. Inzwischen sind Zensur und Druck schärfer geworden. Wäre es auch heute noch möglich, so ein Thema zu wählen?
Ich glaube, die Mehrheit der Bevölkerung und wohl auch der Beamten wissen nicht, dass sich hinter dem Begriff Aufklärung politisch heikle Dinge verbergen können. Dass die westliche Kritik an China auf Wertvorstellungen basiert, die aus der Aufklärung kommen, sehen viele in China gar nicht.
Welche Rolle spielt der Marxismus heute noch?
Der wird noch studiert. Bei jeder Aufnahmeprüfung muss man immer noch etwas über den Marxismus schreiben, das hat sich nicht verändert. Darauf bereitet man sich mit einem Intensivkurs vor. Aber an den Universitäten hat man inzwischen große Freiheiten. In Seminaren für marxistische Philosophie lesen wir Schriften von allen möglichen Theoretikern aus dem Westen, von Hegel über Sartre bis Habermas.
Gab es in China jemals eine eigene Aufklärungsbewegung?
Bei uns wird derzeit viel darüber diskutiert, welche aufklärerischen Elemente es in der chinesischen Kultur und Tradition gegeben hat - zum Beispiel in der sogenannten "Vierte-Mai-Bewegung, die nach dem 4. Mai 1919 benannt ist. Damals ging die Jugend in China zunächst gegen die ausländischen Kolonialmächte auf die Straße, dann wandten sich die Proteste gegen die als rückwärtsgewandt empfundene eigene Kultur.
Die Demonstranten riefen nach "Mr. Science" und "Mr. Democracy"…
Das war eine Zeit der Zukunftszugewandtheit. Das klassische Chinesisch in den Schulen und in der Literatur wurde durch die moderne Umgangssprache ersetzt. Der konfuzianische Kanon sollte nicht mehr gelernt werden. Zur Zeit Maos, der 1976 gestorben ist, galten die Aufklärung in Europa und die Vierte-Mai-Bewegung als hundertprozentig gut. Heute fragen wir uns: Sind wir damals zu weit gegangen?
Warum?
Der Bruch mit den Traditionen war zu scharf. Der Technokratismus in China - das ist auch ein Erbe der Aufklärung bei uns. Wir beneiden die Deutschen.
Worum?
Um ihre Hochachtung vor der Kultur und vor den Geisteswissenschaften. Ein Beispiel: In Deutschland sind viele Universitätsrektoren oder Präsidenten Germanisten. In China stehen Naturwissenschaftler an der Spitze der Hochschulen. Das ist vielleicht auch logisch. Jemand, der in der Lage ist, eine Atombombe zu bauen, ist sicher wichtiger als ein Literat.
Was sagen Sie zu dem Ort, an dem die "Kunst der Aufklärung" gezeigt wird - im Nationalmuseum direkt am Tiananmenplatz?
Das ist eine gute Sache, ein Zeichen des Aufbruchs.
Direkt davor steht seit Januar eine fast zehn Meter hohe neue Statue des alten Konfuzius.
Das ist wirklich ironisch. Ich finde es ganz interessant, dass man ihn da einfach hingestellt hat, ohne große offizielle Zeremonie und ohne viel Propaganda. Offenbar will die Regierung unauffällig die Tradition restaurieren. Jetzt steht Konfuzius schräg gegenüber dem Tor des Himmlischen Friedens mit dem Mao-Porträt und nicht weit vom Mao-Mausoleum.
Und ab und zu wird auch noch das Porträt des Republikgründers von 1912, Sun Yatsen, dazugestellt!
Das ist doch witzig - in den siebziger Jahren noch hat Mao eine Kampagne zur Kritik des Konfuzius losgeschlagen. Das ist China! Niemanden hier im Lande stört diese Kombination. Nur für die Ausländer ist das ein allzu buntes Gemisch.
Was steckt dahinter?
Die Vielfalt und das Durcheinander der Leitideen und Wertvorstellungen, die Toleranz und die Blindheit des Staats.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Rechte Gewalt in Görlitz
Mutmaßliche Neonazis greifen linke Aktivist*innen an
Deutungskampf nach Magdeburg
„Es wird versucht, das komplett zu leugnen“
Lohneinbußen für Volkswagen-Manager
Der Witz des VW-Vorstands
Aktionismus nach Magdeburg-Terror
Besser erst mal nachdenken
Polizeigewalt gegen Geflüchtete
An der Hamburger Hafenkante sitzt die Dienstwaffe locker
Mindestlohn feiert 10-jähriges Jubiläum
Deutschland doch nicht untergegangen