■ Chinas Regierung verzichtet darauf, Schröder vorzuführen: Konstruktiver Pragmatismus
Nach dem von westlichen Armeen niedergeschlagenen Boxeraufstand mußte der chinesische Prinz Chun 1901 ins kaiserliche Berlin reisen. Die Deutschen hatten darauf bestanden, daß sich ein Mitglied der chinesischen Kaiserfamilie persönlich für den während des Aufstands erfolgten Mord am deutschen Gesandten in Peking entschuldigt. Berlin wollte einen förmlichen Kotau des jungen Prinzen. Doch der weigerte sich, es kam zum Eklat.
Bei Kanzler Schröders Peking-Reise blieben der Eklat und die Konfrontation aus. Denn Chinas Regierung verzichtete darauf, den Kanzler vorzuführen. So fanden erwartete Demonstrationen entlang der Flughafenstraße nicht statt, wo fast zeitgleich zu Schröder die Opfer des Angriffs auf die Belgrader Botschaft vorbeigefahren wurden. Damit haben in Peking die Pragmatiker um Premierminister Zhu Rongji wieder die Oberhand, nachdem in den letztenTagen orthodoxe Kräfte den Ton bestimmten.
Schröders Besuch war konstruktiver Pragmatismus auf beiden Seiten. Die klaren Kanzler-Worte des Bedauerns und seine Kritik an der Erklärung der Nato über die Hintergründe der fatalen Botschaftsbombardierung schon vor der Abreise waren kein Kotau, sondern angemessen. Die Opfer sind so unschuldig, wie die Angriffe unentschuldbar und die Nato-Erklärungen hanebüchen sind. Schröders Bedauern wurde in China mehr geglaubt als dem „Sorry“ Bill Clintons. Die Vermeldung von Schröders Entschuldigung auf den Titelseiten zeigt, daß sie angenommen wurde, womit die Nato allerdings noch nicht aus dem Schneider ist.
Peking will nach Tagen der Proteste zur Normalität zurückkehren. Schon daß China Schröders Besuch nicht ganz absagte, hatte gezeigt, daß Peking die Tür zum Westen nicht zuschlagen will. Die Anti-Nato-Demonstrationen sollten vermitteln, daß Pekings Geduld zu Ende ist. Diese Nachricht ist angekommen. Doch Chinas Führung hat auch gemerkt, daß sie nur internationalen Einfluß hat, wenn sie dialogbereit ist und sich nicht in den globalen Schmollwinkel zurückzieht. Hauptziel von Schröders Reise war für beide Seiten, die Gesprächskanäle offen zu halten und das Interesse an einer diplomatischen Lösung zu bekunden. Nicht mehr und nicht weniger wurde erreicht. Doch ist es noch weit, bis China im UN-Sicherheitsrat auf ein Veto für die Lösung des Kosovo-Konflikts entsprechend der Übereinkunft der G-8-Außenminister verzichtet oder die Nato zunächst das Bomben einstellt. Sven Hansen
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